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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

231.232. Die Vocale: 1. Winteler’s System. 87


231. In der ersten Ausgabe dieses Buches war auf Grund einer von Lepsius übernommenen falschen Analyse der Bildung des russischen jery und einiger ähnlicher Laute das Winteler'sche System durch Annahme einer zweiten Reihe von Vermittelungsvocalen erweitert, die als durch Combination der Zungenartieulation der Reihe ua mit der Lippenarticulation der Reihe ia entstanden gedacht wurden. Das erweiterte System bekam dadurch (mit Weglassung der Kreislinien) die Gestalt:

ü¹
ü²
ö¹
ö²
u¹ u² o¹ o² a & e² e¹ i² i¹
ȯ²
ȯ¹
²
¹

Diese Anordnung ist später in mehr oder weniger modificirter Gestalt von Trautmann und Techmer aufgenommen und weiter ausgebildet worden.

232. Dies sogenannte Normalsystem bedarf aber noch verschiedener allgemeiner Modificationen, um den Anforderungen der Praxis gerecht zu werden, denn es beruht auf willkürlicher Auswahl bestimmter Momente der Lautcharakterisirung. Der Satz, dass zur Bildung der Laute der Vocalreihe uai die Articulation der Zunge und die der Lippen gleichmässig und in möglichster Energie vorhanden sein müsse, ist wesentlich deswegen aufgestellt, weil man doch nun einmal von einer bestimmten Articulationsweise ausgehn musste, und gerade die gewählte die sicherste Bestimmung der Endpunkte der Vocalreihe zu ermöglichen schien. Nun lehrt aber die Beobachtung, dass selbständige Lippenthätigkeit, namentlich bei den Lauten der i-Reihe, vielfach gar nicht, vielfach wenigstens nur in sehr geringem Masse vorhanden ist. Was hier an der Lippenthätigkeit erspart wird, wird oftmals durch gesteigerte Zungenthätigkeit ersetzt, damit einigermassen dieselbe Klangfarbe herauskomme, wie bei den Vocalen mit stärkerer Lippenbetheiligung. Gegenüber diesen letzteren haben die auf die erstere Weise erzeugten Vocale zwar etwas weniger scharf ausgeprägte Klangfarben als die vorher beschriebenen, aber man kann doch auch bei ihnen sämmtliche Unterschiede der ganzen Scala durchlaufen (es ist also z. B. ein ohne Lippenrundung gesprochenes u¹ nicht etwa einem mit Lippenrundung gesprochenen u² gleichzusetzen; denn bei letzterem findet doch immerhin, wenn auch schwächer als beim u¹, eine

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/107&oldid=- (Version vom 27.5.2022)