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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

224—227. Die Vocale: 1. Winteler’s Reihe uai. 85


224. Für die Aufstellung dieser Normalvocale sind nun nach Winteler besonders zwei Gesichtspunkte massgebend: Erstens, dass der Abstand derselben unter einander gleich sei, d. h. also, dass wenn z. B. zwischen a und u nur ein Mittellaut (o) eingeschoben werde, dies Normal-o dann erzeugt werde, wenn man die Uebergangsbewegung der Organe von a zu u genau in der Mitte unterbricht. Bei zwei Mittellauten hätte diese Unterbrechung zweimal, beim ersten und beim zweiten Drittel, stattzufinden. Natürlich kann man die so festzusetzenden Normalvocale nur durch allmähliches, sorgfältiges Durchprobiren der ganzen Articulationsreihe uai ermitteln. Hat man dies aber gethan und sich die Articulationsweise und den Klang der gefundenen Normalwerthe genau eingeprägt, so wird es leicht sein, das Verhältniss derselben zu einer jeden abweichenden Vocalnüance zu erkennen und auch für andere zu charakterisiren.

225. Was sodann die Anzahl der Kategorien betrifft, so glaubte Winteler für die indogermanischen Sprachen mit einer Verdoppelung der bisher vorgeführten Vocalkategorien u, o, a, e, i auskommen zu können (zwei i und u waren jedoch schon vor ihm von den Engländern, in Deutschland auch von Böhmer aufgestellt worden).

226. Zu den so erhaltenen zehn Normalvocalen der Reihe uai kommen nun noch die bisher ausser Acht gelassenen Laute von der Klangfarbe ü, ö, die man als Vermittelungsvocale bezeichnen könne. Während nämlich bei der Bildung der Laute uai die beiden die Klangfarbe bedingenden Factoren (die Articulation der Zunge und die der Lippen, s. 211 f.) auf dasselbe Resultat hinwirken, treten bei ü, ö diese Factoren in Gegenwirkung, d.h. es verbindet sich die Zungenartıculation eines hellen Vocals mit der Lippenarticulation eines dunkeln oder umgekehrt. So ist z. B. beim deutschen ü die Zunge vorgestreckt und gehoben wie beim i, die Mundöffnung aber rundlich contrahirt wie beim u. Dieser Articulationsweise entsprechend liegen denn auch die Klangfarben dieser Vocale in der Mitte zwischen denen der Reihe ua und der Reihe ai.

227. Die Eintheilung dieser Vermittelungsvocale ergibt sich nach dem Gesagten leicht.

Es sind ebenso viele Vermittelungsvocale aufzustellen, als Stufen zwischen a und u vorhanden sind, bez. zwischen a und i,

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/105&oldid=- (Version vom 25.5.2022)