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Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen

84 220—223. Die Vocale: 1. Winteler’s Reihe uai.


220. Geht man vom äussersten u allmählich zu einem im Uebrigen beliebigen o-Laute über, so wird der hintere emporgehobene Theil der Zunge ebenso stufenweise gesenkt, und die ganze Zunge etwas vorgeschoben (in der Richtung zur Indifferenzlage); die Mundöffnung erweitert sich in entsprechendem Verhältniss, ohne ihre gerundete Gestalt zu verlieren. Verfolgt man diese allmähliche Verschiebung unter gleichzeitiger Senkung des Unterkiefers weiter, so gelangt man zur u-Basis des a, bei welcher die Zunge nun bereits der Ruhelage ziemlich nahe flach ausgestreckt im Munde liegt; die willkürliche Articulation der Lippen (d. h. ihre kreisförmige Zusammenziehung) hat aufgehört, die Gestalt der Mundöffnung ist einfach abhängig von der Senkung des Unterkiefers.

221. Durchläuft man nun vom a ausgehend die Zwischenstufen zum i hin, so wird die Vorschiebung der Zunge fortgesetzt und ihr Vordertheil hebt sich stufenweise zum harten Gaumen in die Höhe; der beim Gange von u zu a hin etwas gesenkte Unterkiefer steigt ebenso allmählich wieder mit empor, und es kann abermals eine willkürliche Articulation der Lippen beginnen, indem die Mundwinkel auseinander gezogen werden.

222. Man durchläuft also vom u ausgehend sämmtliche mögliche Vocalnüancen der Reihe ui, indem man die 209 ff. gegebenen Charakteristica der u-Articulation gradweise verringert, bis sie gleich oder fast gleich O werden, dann aber zu der ebenda charakterisirten i-Stellung gleichfalls durch gradweise Steigerung der beiden Articulationsfactoren (Zungenund Lippenthätigkeit) fortschreitet. Zwischen u und i liegt also eine lange ganz continuirliche Reihe gleichmässig abgestufter und in einander übergehender Vocalnüancen. Alle hier zu machenden Unterschiede sind folglich auf der oben 208 erwähnten Vocallinie ui einzutragen.

223. Da man nun doch nicht für jeden einzelnen Punkt dieser Linie, d. h. für jede mögliche Nüance, ein gesondertes Zeichen aufstellen kann, so bleibt nichts anderes übrig, als die Linie in eine gewisse Anzahl von Theilen zu zerlegen, d.h. statt einzelner Vocalnüancen vielmehr Gruppen oder Kategorien (vgl. schon oben 121) von solchen aufzustellen, deren einzelne Varietäten sich einem Normalvocal unterordnen, der als eigentlicher Repräsentant der Kategorie gilt. Als Normalvocal ist diejenige Nüance zu bezeichnen, welche den Klangcharakter der Kategorie am ausgesprochensten wiedergibt.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/104&oldid=- (Version vom 25.5.2022)