Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen | |
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218. 219. Die Vocale: 1. Winteler’s Reihe u—a—i. | 83 |
hier am besten von der Indifferenzlage aus. Bringt man nun
abwechselnd ein ‘dunkles’ a und ein ‘breites’ ä hervor, so sieht
man, wie bei ersterem der Zungenkörper nach hinten, beim
zweiten etwas nach vorn geschoben wird (die gleichzeitig wahrnehmbare
Hebung der Zunge ist wesentlich nur eine Folge der
Hebung des Gaumensegels, welches bei der Vocalbildung den
Nasenraum abschliessen muss). Verringert man diese Vorwärtsund
Rückwärtsbewegung allmählich, so müsste man schliesslich
mit der Rückkehr zur Ruhelage zu einer ganz neutralen Mittelstellung
gelangen, welche als Articulationsproduct das ganz
reine, neutrale a lieferte. Bei dieser Stellung wird aber ein
breiter ä-ähnlicher Laut erzeugt, den man nicht mehr zu den
Arten des a rechnen kann. Ein eigentlicher a-Laut kommt
erst bei einer merklichen Rückwärtsbewegung der Zunge zu
Stande, also durch eine positive Articulation aus der Indifferenzlage
heraus. Daher setzte Winteler an die Stelle der bisher
angenommenen Einheit eine Zweiheit von Lauten, die er nicht
unpassend die u- und die i-Basis nannte, insofern durch Steigerung
ihrer specifischen Articulationen — Zurückziehung der
Zunge aus der Ruhelage bei der u-Basis, Vorschiebung der
Zunge bei der i-Basis — die Zwischenlaute zwischen a und i,
a und u und endlich i und u selbst erreicht werden. Die möglichst
geringe Rück- oder Vorwärtsbewegung der Zunge stellt
also die äussersten Nähepunkte der beiden Basen dar.
218. Dass man hiernach das a nicht, wie vielfach (seit Kempelen 201) geschehen, als den ‘natürlichen Vocal’ bezeichnen darf, leuchtet von selbst ein, da auch zu seiner Bildung die einzelnen Theile des Ansatzrohrs Articulationsbewegungen ausführen müssen. Lässt man die Stimme ertönen, während die Mundorgane sich in der Ruhelage befinden, so erhält man den seiner Klangfarbe nach zwischen ä und ö liegenden nasalirten Laut, den wir unwillkürlich beim Stöhnen hervorbringen. Auch der blosse Abschluss der Nasenhöhle durch Hebung des Gaumensegels genügt noch nicht, um ein a hervorzubringen, man bekommt vielmehr, wıe schon angedeutet, bei Ausführung dieser Articulation (wobei man behutsam darauf achten muss, die Zunge nicht aus ihrer Ruhelage zu bewegen) ein ä, den ersten Schreilaut der Kinder, den man mit viel mehr Recht als das a einen Naturlaut nennen könnte, wenn das Ganze nicht doch auf eine blosse Spielerei hinausliefe.,
219. Was nun die weitere Gliederung der Reihe u—a—i anlangt, so lassen sich die Zwischenlaute wie o und e nicht so sicher bestimmen, wie jene drei Markpunkte. Doch zeigt eine Betrachtung der Articulationen dieser Laute im Verhältniss zu der von u, a, i wenigstens den Weg zu einer weiteren, ziemlich exacten Vocaleintheilung.
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/103&oldid=- (Version vom 25.5.2022)