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Die Seelenburg

unsere Befleckung erkennen, und die Betrachtung seiner Demut wird uns zeigen, wie weit wir von dieser Tugend entfernt sind“[1]. Doch in diesem ersten Gemach ist die Seele noch sehr weit entfernt von Gott, sodaß „in diese erste Wohnung von dem Licht, welches aus dem Palast ausgeht, worin der König wohnt, fast noch nichts gelangt“[2]. Oder vielmehr: die Seele vermag das Licht nicht zu sehen, weil mit ihr zugleich soviel „böses Zeug“, „Nattern, Vipern und andere giftige Tiere“ eingedrungen sind. Die Seele ist noch so verstrickt in die Dinge dieser Welt, daß sie sich selbst nicht betrachten kann ohne das, was sie gefesselt hält, mitzubetrachten. Darum ist das Licht für sie verdunkelt. Sie merkt von der Gegenwart Gottes nichts, auch wenn sie zu ihm redet, und wird bald wieder nach außen gezogen.

Im Vergleich damit ist die zweite Wohnung dadurch ausgezeichnet, daß die Seele hier schon gewisse Rufe Gottes vernimmt. Es sind darunter nicht innere Einsprechungen zu verstehen, die sich in der Seele selbst bemerkbar machen, sondern etwas, was von außen an sie herantritt, was sie aber als eine von Gott geschickte Mahnung auffaßt: Worte in einer Predigt, Stellen in Büchern, die ihr als eigens für sie bestimmt erscheinen, Krankheiten oder andere „Schickungen“. Die Seele lebt immer noch in und mit der Welt, aber diese Rufe dringen in ihr Inneres ein und mahnen sie selbst zur Einkehr. (Es taucht die Frage auf, was denn die ganz „äußerlichen“ Menschen zum Eintritt durch die Pforte des Gebetes bewegen mag, wenn sie noch nicht solche Rufe vernehmen. Die Heilige äußert sich darüber nicht. Ich vermute, daß sie wie selbstverständlich mit Menschen rechnet, die durch ihre fromme Erziehung daran gewöhnt sind, zu gewissen Zeiten zu beten, und genügend in den Glaubenswahrheiten unterrichtet, um in ihrem Sinn an Gott zu denken, während sie beten).

In der dritten Wohnung halten sich die Seelen auf, die sich die Rufe Gottes zu Herzen genommen haben und nun dauernd bemüht sind, ihr Leben nach Gottes Willen zu ordnen: sie hüten sich sorgfältig vor jeder auch läßlichen Sünde, üben sich regelmäßig in Gebet, Bußübungen und guten Werken. Werden sie von schweren Prüfungen heimgesucht, so zeigt es sich aber, daß sie immer noch durch


  1. a.a.O. S. 22 f.
  2. a.a.O. S. 26.
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Edith Stein: Die Seelenburg. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/42&oldid=- (Version vom 31.7.2018)