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Abschnitt V

in strengem Sinne zu nehmen. Es ist damit das Erfassen gemeint, das wir als ein Moment in der fides kennen lernten. Wir werden in dieser absoluten Beziehung zu einem Menschen von seinem personalen Seinsbestande innerlich berührt wie von der Hand Gottes. Hier ist wiederum absolute und in sich als absolut gekennzeichnete Gewißheit, die bleibt, auch wenn sich die Überzeugung „daß er wirklich so ist“ eventuell auf Grund von Erfahrungen in Zweifel und schließlich in ihr Gegenteil verwandeln mag. Aber was der Mensch in diesem absoluten Sinne ist, das kann er in der Aktualität des irdischen Lebens mehr und weniger sein. Und je weniger er es ist, desto weniger kann man sich an ihm halten - man greift ins Leere, wenn man es will. Eine absolute Geborgenheit gibt es hier nicht.

Und darin liegt der Unterschied zwischen der reinen fides und dem Glauben an einen Menschen. Was das Erfassen anlangt, stimmen beide überein. Das Sich-halten-an und Gehaltenwerden ist ein anderes. Der Absolutheit und Unwandelbarkeit des göttlichen Seins entspricht die absolute Geborgenheit dessen, der feststeht im Glauben. Die Dualität im Wesen des Menschen, die es möglich macht, daß er von sich abfällt und sich verliert, macht ihn untauglich zu einem absoluten Halt. Die durch den Glauben an ihn motivierten Erwartungen können immer enttäuscht werden, und das gibt diesem Menschen selbst ein Moment der Ungewißheit, das bei der fides ausgeschlossen ist.

Wir sind schon mehrfach daraufgestossen, wie sich die fides zu den verschiedenen Bedeutungen des Glaubens in der intellektuellen Sphäre verhält. Dem belief entspricht am religiösen Grundakt das, was wir Glaubensgewißheit nannten. Aber dieses Moment unterscheidet sich vom belief durch seine Absolutheit und prinzipielle Unüberführbarkeit in andere Charaktere, wie Zweifel u.dgl.

Der Überzeugung gegenüber spielt die fides die Rolle eines möglichen Fundaments, wie der Gegenstand des Glaubens Fundament sein kann für die Sachverhalte, denen die Überzeugung gilt. Das bedarf besonderer Erwähnung, denn damit hängt zusammen, was auch schon einmal berührt wurde : daß aus dem Glauben Erkenntnisse vom Gegenstand des Glaubens geschöpft werden können. Solange wir schlicht im Glauben leben, steht der Gegenstand des Glaubens einfach vor uns, er erscheint uns nicht als ein so und so qualifizierter.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/191&oldid=- (Version vom 31.7.2018)