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Kreuzesnachfolge

14 bis 15 Mönche, die sich für die Mette bereit machen. Sie hängen ihre Lampen an der Wand auf. Man fragt den Heiligen, wie es ihm geht. Er ergreift das Seil, das von der Decke herabhängt, und richtet sich auf. „Patres, wollen wir nicht das de profundis beten? Ich fühle mich sehr gut“. Dabei sah er „sehr ruhig, schön und fröhlich aus“, berichtet der Subprior, Ferdinand von der Mutter Gottes. Er selbst stimmt an, die andern respondieren. Auf diese Weise wurden „ich weiß nicht wieviel Psalmen gebetet“, sagt Francisco Garcia. Es waren die Bußpsalmen, die der recommendatio animae vorausgehen. Ob diese sofort an die Psalmen angeschlossen wurden und an welcher Stelle Johannes das Gebet unterbrach, darüber geben die Berichte keine übereinstimmende Auskunft. Er war nämlich müde geworden und mußte sich zurücklegen. Und er hatte noch einen Wunsch: daß ihm jemand etwas aus dem Hohenlied vorlesen möchte; der Prior tat es. „Welch kostbare Steine!“, ruft der Sterbende[1]. Es war ja das Lied der Liebe, das ihn durchs Leben begleitet hatte.

Aufs neue fragt er nach der Zeit. Es hat noch nicht Mitternacht geschlagen. „Zu dieser Stunde werde ich vor Gott stehen, um die Mette zu rezitieren“. P. Antonius erinnert ihn an das, was er für die Reform getan hat, in den Anfängen und später als Oberer. Der Heilige antwortet: „Gott weiß, was geschehen ist“. Aber nicht darauf will er sich stützen. „Pater Noster[2], dafür ist jetzt nicht der rechte Augenblick; durch die Verdienste des Blutes unseres Herrn Jesu Christus hoffe ich gerettet zu werden“.

Die Mitbrüder bitten um seinen Segen. Auf Befehl des Provinzials gibt er ihn. Er ermahnt sie, wahrhaft gehorsam und vollkommene Ordensleute zu sein.

Kurz vor Mitternacht reichte er seinen heiligen Christus einem der Umstehenden, wahrscheinlich Francisco Diaz. Er wollte beide Hände frei haben, um seinen Körper für den Aufbruch in die rechte Verfassung zu bringen. Aber (bald nahm er ihn wieder zurück, und nun verabschiedete er sich mit zärtlichen Worten von dem Gekreuzigten wie vorher von dem Eucharistischen Heiland.

Zwölf Schläge tönen vom Glockenturm. Der Sterbende sagt: „Bruder Diego, geben Sie ein Zeichen, daß man zur Mette läuten soll, denn es ist schon an der Zeit“. Francisco Garcia, der Glöckner für die Woche, geht hinaus. Johannes hört den Klang der Glocke und spricht, mit dem Kreuz in der Hand: „In manus tuas, Domine, commendo spiritum meum“. Ein Abschiedsblick auf die Anwesenden,


  1. P. Bruno, Vie d’Amour, S. 264.
  2. Die Anrede für den Provinzial in unserm Orden.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/278&oldid=- (Version vom 9.3.2019)