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Kreuzesnachfolge

der Infirmar das begriffen hat, wird er nicht nur selbst zurückhaltend, sondern schickt auch manchmal Besucher fort. Selbst der Arzt hat Verständnis dafür. „Lassen wir den Heiligen beten“, sagt er. „Wenn er .... wieder zu sich kommt, wollen wir ihn pflegen“.

Dieser Arzt war am Bett seines Patienten „ein anderer Mensch geworden“. Der Heilige schenkte ihm ein eigenhändig geschriebenes Exemplar der Lebendigen Liebesflamme. Darin las er später oft zu seinem Trost[1]. Immer durchsichtiger wird der Schleier, der für die Seele noch die Himmelsherrlichkeit verhüllt. Immer mehr Glanz dringt hindurch. Der Arzt kündet dem Kranken den nahen Tod an. Ein Freudenruf ist die Antwort: Laetatus sum in his quae dicta sunt mihi: in domum Domini ibimus (Ps. 122,1). Die Mitbrüder bieten Johannes das viaticum an; doch er antwortet, er werde sagen, wenn es Zeit sei. Seit der Vigil der Unbefleckten Empfängnis weiß er Tag und Stunde seines Todes. Er verrät es mit den Worten: „Gepriesen sei die Dame, die will, daß ich an diesem Samstag aus dem Leben scheide“. Dann kommt die genaue Ankündigung: „Ich weiß, daß Gott unser Herr mir die Barmherzigkeit und Gnade erweisen wird, zum Beten der Mette in den Himmel zu gehen“.

Zwei Tage vor seinem Tode verbrennt er an einer Kerze alle seine Briefe – eine große Zahl –, weil es „eine Sünde sei, sein Freund zu sein“. Am Abend dieses Donnerstags erbat und erhielt er die heilige Wegzehrung. Alle, die ihn um ein Andenken baten, verwies er an seinen Oberen: er sei arm und besitze nichts. Er ließ auch diesen Oberen, den Prior Franciscus Chrysostomus rufen, bat um Verzeihung für alle Fehler und fügte die Bitte hinzu: „Mein Vater, das Ordenskleid der Jungfrau, das ich getragen und benützt habe – ich bin ein armer Bettler und habe nichts zur Beerdigung –, ich bitte Euer Hochwürden um der Liebe Gottes willen, es mir aus Nächstenliebe zu geben“. Der Prior segnete ihn und verließ die Zelle. Es scheint, daß in diesem Augenblick sein innerer Widerstand noch nicht gebrochen war. Aber schließlich hat er doch als reuiger Schacher weinend zu den Füßen des Sterbenden gekniet und sich entschuldigt, daß das „arme Kloster“ ihm nicht mehr Erleichterung in seiner Krankheit bieten konnte. Johannes antwortete: „Pater Prior, ich bin sehr zufrieden, ich habe mehr als ich verdiene. Vertrauen Sie auf unsern Herrn; es wird eine Zeit kommen, wo dieses Haus alles Notwendige haben wird“.

Am 13. Dezember fragt er morgens, was für ein Tag es sei, und


  1. P. Bruno a.a.O. S. 359.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/276&oldid=- (Version vom 9.3.2019)