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Kreuzesnachfolge

suchen, und als nirgends jemand zu entdecken ist, muß er einen cuarto als Entschädigung auf den Stein legen[1]. Noch ein paar Stunden – dann sind sie am Ziel. Der Prior empfängt den Sterbenskranken und weist ihm die ärmste und kleinste Zelle an. Der Arzt, Licenciat Ambrosio de Villareal untersucht die Wunden. Er stellt Wundrose fest und starke Eiteransammlung. Ein schmerzlicher Eingriff wird nötig. Der Chirurg will den Herd des Übels herausfinden und legt Knochen und Nerven von der Ferse bis zur Mitte der Wade bloß. Bei dem furchtbaren Schmerz fragt der Kranke: „Was haben Sie getan, mein Herr?“ Er besieht die Wunde und ruft: „Jesus, das ist es, was Sie gemacht haben!“ Später hat der Arzt dem P. Johannes Evangelista erzählt: „Er hat die schrecklichsten Schmerzen, die jemals erhört wurden, mit unvergleichlicher Geduld ertragen“. Auch andern gegenüber hat er oft seiner Verwunderung Ausdruck gegeben, daß der Kranke mit solcher Ruhe und Heiterkeit litt; er erklärte, Johannes vom Kreuz müsse ein großer Heiliger sein, denn es schien ihm unmöglich, so große, anhaltende Schmerzen ohne Klagen zu leiden, wenn man nicht sehr heilig wäre und eine große Gottesliebe hätte und sich nicht auf den Beistand des Himmels stützen könnte[2]. Das war auch der Eindruck, den die ganze Umgebung hatte. Die Mönche betrachteten es als eine Gnade, ein solches Vorbild in ihrer Mitte zu haben. Nur der Prior verharrte lange Zeit in seiner Verbitterung. Wenn er den Kranken besuchte, so geschah es, um ihm vorzuhalten, wie er (Johannes) als Provinzialvikar von Andalusien ihn zurechtgewiesen hatte. Er konnte es nicht mitansehen, wie Klosterleute und Außenstehende um die Wette bemüht waren, die Qualen des Dulders zu erleichtern. (In diesem Punkt war die Vorsorge, einen unbekannten Ort zu wählen, um sonst gewesen: Heiligkeit bleibt nirgends so verborgen, daß sich gar keine Verehrer fänden.) Don Fernando Diaz aus Ubeda hatte ihn früher einmal – bei der Stiftung von la Mancha – das Evangelium singen hören; das hatte genügt, um ihm sein Vertrauen zu schenken. Sobald er von der Ankunft des Kranken hörte, suchte er ihn auf und kam seitdem täglich, bisweilen sogar drei- bis viermal am Tage, um nach ihm zu sehen. Einmal begegnete ihm der Prior, als er gerade Wäsche und Binden des Heiligen zum Waschen fortbringen wollte. Einige fromme Frauen schätzten sich glücklich, ihm diesen Liebesdienst leisten zu dürfen; sie wurden dafür belohnt durch einen wunderbaren Duft, der von dieser eitergetränkten Leinwand ausströmte. Nun verbot


  1. Vgl. P. Bruno a.a.O. S. 352 f.; Aussage des P. Bartholomäus vom hl. Basilius, Obras IV 394, und des P. Francsicus vom hl. Hilarion, Obras V 114.
  2. Aussage des P. Ferdinand von der Mutter Gottes, Obras V 331.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/274&oldid=- (Version vom 9.3.2019)