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Kreuzesnachfolge

nicht mehr – wie wolltest du der Seele die letzte Vollendung .... geben, die .... im Werke Gottes besteht.... Gott führt die Seelen auf verschiedenen Wegen.... Wo findet sich aber der Mann, der wie St. Paulus allen alles wird, um alle zu gewinnen? (1 Cor. 9,22) Auf diese Weise tyrannisierst du die Seelen und beraubst sie der Freiheit....“[1] Ebenso hat Johannes, der selbst als Oberer durch hingebende Güte alle Herzen gewann, der einen notwendigen Tadel nur mit Milde und väterlicher Liebe aussprach, sich entschieden gegen ein brutales Regimentführen gewendet: „Wenn .... in einem Orden die christliche und monastische Höflichkeit .... abhanden gekommen ist und wenn statt dessen die Oberen sich ungehobelt und brutal benehmen...., so soll man den Orden als verloren beweinen“[2].

Es ist die schmerzliche Sorge um die Seelen, die dem Heiligen diese scharfen Worte eingibt. Christus hat die Seelen mit Seinem Leiden und Sterben erkauft, jede einzelne ist Ihm und Seinem treuen Jünger unendlich teuer. Auserwählten Seelen Lebensbedingungen zu verschaffen, in denen Gottes vollendende Hand ungestört ihr Werk an ihnen verrichten konnte, das war das Ziel der Reform. Wir wissen, welche Leiden Johannes freudig auf sich genommen hat, als dieses Werk Gottes von äußeren Feinden bedroht war. Vielleicht hat seine Seele noch mehr gelitten, als innerhalb des reformierten Ordens selbst ein Geist zur Herrschaft kam, der Gottes Wirken in den Seelen bedrohte. Die Gefahr kam von entgegengesetzten Seiten: P. Hieronymus drängte zu äußerer Tätigkeit in den Missionen. Es fehlte Johannes gewiß nicht an Sinn für das Apostolat in den Heidenländern. Es ging ihm sehr zu Herzen, daß „unser wahrer Gott und Herr“ noch in fast allen Teilen der Welt unbekannt war und nur in einem so kleinen Teil bekannt[3]. Aber er wollte keine äußere Tätigkeit auf Kosten der Sammlung. Nicolas Doria vertrat das entgegengesetzte Extrem: er wollte Einsamkeit und Bußstrenge, aber er ging darauf aus, dies Ideal starr festzulegen, eben das widersprach aber dem Geist der hl. Mutter und ihres ersten Gefährten, es widersprach dem Geist Gottes selbst, der weht, wo er will. Teresia hatte selbst soviel unter mangelndem Verständnis unerfahrener Beichtväter gelitten; darum hatte sie in ihren Konstitutionen für ihre Töchter die Freiheit der Aussprache mit Geistesmännern, denen sie Vertrauen schenken konnten, gesichert. Nicolas Doria wollte ihnen die Freiheit nehmen. Seit 1585 Provinzial, mit weitgehenden Vollmachten


  1. a.a.O. § 12, E. Cr. II 460 f.
  2. 15. Ausspruch, E. Cr. III 65.
  3. P. Bruno a.a.O. S. 300.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/268&oldid=- (Version vom 6.1.2019)