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Kreuzesnachfolge

am Fluß erworben. Tagelang ist er dort mit Johannes von der hl. Anna. Die Nacht verbringt er allein im Gebet, aber manchmal holt er seinen Gefährten, geht mit ihm an den Fluß und spricht mit ihm von der Schönheit des Himmels, des Mondes und der Sterne[1]. Auch als Prior von Segovia hat er eine solche Oase: eine hochgelegene Einsiedelei mit weitem Ausblick. Dorthin zog er sich zurück, sooft die Geschäfte es gestatteten[2]. Still und einsam dem Gebet zu leben, das war seine Sehnsucht von den Jugendjahren bis ans Ende. Aber die meiste Zeit seines Lebens war auch er mit Amtspflichten überladen. Und wie er dem Heiland gefolgt ist in der liebevollen Fürsorge für die Kranken (auch mit dem carisma wunderbarer Heilungen), so geht er ihm nach in der aufopfernden Hirtensorge für die Seelen. Solange er Rektor in Baëza war, wurde nach seinem Beispiel von morgens bis abends Beichte gehört. Er stand jedem zur Verfügung. Einmal bat ihn der Pförtner, Bruder Martin, um einen „friedlichen Beichtvater“ für einen Verwandten, einen leichtsinnigen Hauptmann. Er ging selbst hin und bekehrte diesen Weltmenschen so gründlich, daß er nun „Tag und Nacht“ ins Kloster kam, um an den geistlichen Übungen teilzunehmen[3]. Er hatte eine unerschöpfliche Geduld für Skrupulanten, die niemand anders mehr anhören wollte. Seinem liebenden Herzen war es der größte Schmerz zu sehen, wie Seelen irregeleitet und tyrannisiert werden durch unkundige und gewalttätige Führer. Ihnen gegenüber findet der sanfte und gütige Heilige so schneidend scharfe Worte wie der Heiland gegenüber den Pharisäern. In der Lebendigen Liebesflamme unterbricht er die Darstellung der Salbungen des Geistes, die als nächste Vorbereitung für die Vereinigung mit Gott verliehen werden, durch eine lange Auseinandersetzung über die geistlichen Führer: „.... Das Mitleid und der Jammer meines Herzens beim Anblick so mancher Seelen, die von ihrer Höhe wieder herabsinken, ist so groß, daß ich nicht zur Ruhe komme....“ Der geistliche Führer „muß weise und klug sein, aber auch Erfahrung besitzen...., fehlt ihm die Erfahrung in rein geistigen Dingen, dann wird er in der Leitung der Seele, wenn sie von Gott damit begnadigt wird, nicht zurechtkommen.... Auf diese Weise fügen viele geistliche Führer so manchen Seelen großen Schaden zu.... Da ihr Wissen über die Anfangsgründe nicht hinausgeht – und gebe Gott, daß sie davon eine richtige Kenntnis hätten –, so wollen sie nicht erlauben, daß die Seele, die Gott zu Höherem erheben will, die Betrachtungsweise der Anfänger


  1. Obras I 105.
  2. P. Bruno a.a.O. S. 325 f.
  3. a.a.O. S. 228.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/266&oldid=- (Version vom 6.1.2019)