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Kreuzesnachfolge

Schon bei den Beschuhten war sein Erscheinen eine Mahnung zum Stillschweigen. Mit einem kurzen Satz konnte er Beängstigungen und Versuchungen für immer zum Schweigen bringen[1]. Er war auch groß in der Unterscheidung der Geister: Postulanten, die um Aufnahme in den Orden baten, schickte er manchmal weg, wenn sie den andern durchaus geeignet schienen, oder nahm sie auf, wenn andere Bedenken hatten, weil vor ihm offen lag, was für das gewöhnliche menschliche Urteil verborgen war[2]. Eine Karmelitin machte er in der Beichte auf einen lange zurückliegenden schweren Fehler aufmerksam, den sie niemals durchschaut und darum auch nicht bekannt hatte[3]. Hierher gehört auch die bekannte Erzählung der hl. Mutter, daß er ihr bei der Austeilung der hl. Kommunion im Kloster der Menschwerdung eine halbe Hostie reichte, offenbar um sie abzutöten, weil er ihre Vorliebe für große Hostien kannte[4]. Noch strenger zeigte er sich gegenüber M. Katharina vom hl. Albert in Beas. Sie hatte erklärt, daß sie sicher sei, an einem bestimmten Tage zu kommunizieren, an dem es üblich war, die hl. Kommunion zu empfangen. Als dieser Tag kam, überging sie Johannes bei der Austeilung, auch als sie ein zweites und drittes Mal wiederkehrte; und als man ihn nach dem Grund fragte, erklärte er: „Die Schwester hielt dies für sicher; und ich handelte so, damit sie begreifen lernt, daß das, was wir uns einbilden, keineswegs gesichert ist“[5]. In beiden Fällen beruht das Vorgehen des Heiligen offenbar auf Erkenntnis dessen, was den Seelen notwendig war, um von Unvollkommenheiten freizuwerden. Dieser übernatürlich geschärfte Blick ist gepaart mit einer unbeugsamen Entschiedenheit, die auch nicht als bloß natürliche Eigenschaft anzusehen ist. Wir wissen, mit welcher Ehrfurcht und Lebe er zu unserer heiligen Mutter aufschaute – wie hätte der demütige junge Ordensmann es gewagt, der bejahrten Stifterin so zu begegnen, wenn nicht die Kraft des Heiligen Geistes ihm die Stärke dazu verliehen hätte? Wie hätte der gütige und sanftmütige Heilige aus sich auf so empfindliche und demütige Weise belehren können wie in jenem Fall in Beas? Freilich: auch diese Güte und Sanftmut sind nicht als reine Naturgaben anzusehen. Wir wissen aus den scharfen Äußerungen über unerfahrene und


  1. Vgl. Baruzi a.a.O. S. 290 ff., die Zeugenaussage des P. Martin vom hl. Joseph in Obras IV 377.
  2. Vgl. dieselbe Zeugenaussage.
  3. Baruzi a.a.O. S. 292.
  4. Werke der hl. M. Teresia, Ausgabe des P. Silverio, Bd. II, Burgos 1915, S. 63-64.
  5. Baruzi a.a.O. S. 293.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/262&oldid=- (Version vom 6.1.2019)