Seite:Edith Stein - Kreuzeswissenschaft.pdf/261

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kreuzesnachfolge

zur Einheit verbunden ist[1]. Aber es kann doch nicht behauptet werden, daß diese ganze Bilderpracht ohne willkürlich gestaltendes Eingreifen aus der Tiefe der Seele emporsteige. Vieles ist hier gedanklich und künstlich geformt, mancher Vergleich von weither beigeholt. Und diese Mannigfaltigkeit der Bilder und Gedanken entspricht dem Gehalt: der Unruhe eines bewegten inneren Entwicklungsgangs. Stellen wir diesen Gesang nach Inhalt und Form den vier zuerst besprochenen gegenüber, so geben alle zusammen uns eine Antwort auf die Frage, wie der Heilige die innere Abtötung geübt haben mag: seine Seele ist zur völligen Lösung von sich selbst, zur Einfalt und Stille in der Vereinigung mit Gott gelangt. Aber das war die Frucht einer inneren Läuterung, in der eine reich begabte Natur sich selbst mit dem Kreuz belud und sich Gottes Hand zur Kreuzigung auslieferte; ein Geist von höchster Kraft und Lebendigkeit hat sich gefangen gegeben, ein Herz voll leidenschaftlicher Glut ist in radikalem Verzicht zur Ruhe gekommen. Die Zeugenberichte bestätigen dieses Ergebnis.

Alles tat Johannes „mit wunderbarer Gemütsruhe und Würde“, schreibt P. Elisäus von den Martyrern[2]. „In seinem Umgang und seiner Unterhaltung war er entgegenkommend, sehr geistvoll und fördernd für die Menschen, die ihn hörten und sich mit ihm besprachen. Er war darin so einzigartig und fruchtbar anregend, daß die, die mit ihm verkehrten, ihn, geistig bereichert, voll Andacht und begeistert für die Tugend, verließen. Er hatte eine hohe Auffassung vom Gebet und dem Umgang mit Gott, und auf alle Zweifel, die man ihm über diese Gegenstände vorlegte, antwortete er mit so hoher Weisheit, daß er alle, die ihn um Rat fragten, sehr befriedigt und gefördert entließ. Er war ein Freund der Sammlung und der Wortkargkeit; er lachte selten und sehr gemäßigt“. „Er verharrte beständig im Gebet und in der Gegenwart Gottes, in Gemütserhebungen und Stoßgebeten“[3]. Niemals erhob er seine Stimme, er kannte keine groben und flachen Scherze, gab niemals jemandem einen Spitznahmen. Alle Menschen behandelte er mit gleicher Ehrfurcht. In seiner Gegenwart durfte niemand über andere sprechen außer zum Lob. Selbst in der Rekreation sprach er nur von geistlichen Dingen, und solange er redete, fiel es niemandem andern ein, etwas zu sagen. Auch am Ende der Mahlzeit knüpfte er ein geistliches Gespräch an und hielt alle festgebannt in der Haltung, in der sie gerade waren. Überhaupt war sein Einfluß auf andere erstaunlich.


  1. Im Vorausgehenden II § 3, 2 c) und d).
  2. Obras IV 348.
  3. a.a.O. 3. Ausspruch, Obras IV 349.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 261. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/261&oldid=- (Version vom 6.1.2019)