Seite:Edith Stein - Kreuzeswissenschaft.pdf/260

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kreuzesnachfolge

seinen ihm gleichen Strom gebiert und mit dem zweiten gemeinsam einen dritten von gleicher Fülle hervorbringt. Das Lied, das von diesen Wahrheiten singt, ist durchaus keine Gedankendichtung. Es singt wirklich, in reinsten musikalischen Klängen. Die Glaubenslehre ist darin fließendes Leben geworden: das ewige Meer wogt in ruhigem Wellenschlag in der Seele und singt sein Lied darin. Und jedesmal, wenn es an das Ufer schlägt, gibt es einen dunklen Widerhall: Aunque es de noche („Obgleich’s bei Nacht ist“). Die Seele ist begrenzt – sie kann das unendliche Meer nicht fassen. Ihr Geistesauge ist dem himmlischen Licht nicht angepaßt – es erscheint ihr als Dunkel. Und so lebt sie mitten in der Vereinigung mit dem Dreieinigen, selbst im Genuß des Lebensbrotes, worin Er sich ihr mitteilt, ein Leben der Sehnsucht: Porque es de noche („Weil es bei Nacht ist“). Das Wesen der dunklen Beschauung ist in diesen Versen ausgesprochen.

Das Gedicht Vivo sin vivir en mí[1] („Ohn’ in mir zu leben, leb’ ich“) bringt in seinem Leitmotiv fast denselben Gedanken zum Ausdruck: Que muero porque no muero („Und ich sterb’ darum, weil ich nicht sterbe“). Das Leitmotiv ist aber hier nicht wie im Urquell und im Hirten eine Melodie, die unwillkürlich immer wieder aus der Tiefe des Herzens aufsteigt. Es ist ein Thema, das in Variationen behandelt wird. Der diese kunstvollen Strophen baut, ist sich seiner Kunst bewußt. Er spielt mit seinem Thema: die Todespein dieses Lebens, das nicht das wahre Leben ist, sie ist nicht die lebendige, die sich selbst im Lied ausspricht – es ist ihr Widerschein im rückschauenden Denken, in der Reflexion, den der Dichter auffängt. Seine Kräfte sind noch in Tätigkeit. Und weil seine Seele noch nicht geeint ist in völlig rückhaltloser Hingabe, darum herrscht in ihr noch die Furcht, Gott zu verlieren, darum klagt sie noch über ihre Sünden und empfindet sie als starke Bande, die sie an dieses Leben fesseln.

Formal ähnlich scheint es noch bei mehreren anderen Gedichten zu liegen, die ein Leitmotiv behandeln und als Kehrreim wiederholen. Es ist nicht möglich, hier auf alle einzugehen. Nur auf den Geistlichen Gesang müssen wir in diesem Zusammenhang noch einmal zurückkommen. P. Silverio[2] nennt es die erste und zugleich die schönste unter den Dichtungen, und wirklich sind manche Strophen von unvergleichlichem Zauber. Wir haben uns auch klar gemacht, daß die Fülle der Bilder durch das beherrschende Brautsymbol


  1. Obras IV 320 ff.
  2. Obras IV LXXIX.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/260&oldid=- (Version vom 6.1.2019)