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Kreuzesnachfolge

denken, so mag es scheinen, als könnten sie durch das reine geistige Kreuz kaum noch überboten werden. Ein eigentlicher Vergleich ist freilich in solchem Fall nicht möglich. Für innere Abtötung, wie für alles rein Geistige, gibt es ja kein zahlenmäßig festlegbares Maß, erst recht kein gemeinsames Maß mit äußeren Werken. Immerhin – wenn wir an die Grundsätze des Heiligen denken, wie er sie im Aufstieg entwickelt hat[1]: nichts genießen, nichts wissen, nichts besitzen, nichts sein! –, dann dürfen wir wohl sagen: das ist das non plus ultra der Entblößung, und auch das Höchstmaß äußerer Werke kann niemals daran reichen. Denn die äußeren Werke allein werden das Selbstbewußtsein eher steigern und keineswegs zum Nichts, zum Tod des Ich führen.

Wie können wir aber beweisen, daß Johannes wirklich selbst zu der vollkommenen geistigen Entblößung gelangt ist, die er forderte? Ist uns nicht das Innere dieses verschwiegenen Heiligen verschlossen? Gewiß, wir können nicht darin lesen wie im Herzen der heiligen Mutter und so vieler anderer, die genötigt waren, die Geschichte ihrer Seele aufzuzeichnen. Indessen verrät sich doch das Herz wider Willen in den Schriften und besonders in den Gedichten. Dazu kommen eine große Anzahl von Zeugenaussagen Mitlebender, die ein starkes und einheitliches Bild der Persönlichkeit ergeben, darunter auch einige, die auf eigenen vertraulichen Mitteilungen des hl. Johannes beruhen; es gab doch einige Menschen, die ihm so nahe standen und so in Gott mit ihm verbunden waren, daß er ihnen etwas von den Geheimnissen seines Inneren erschloß: vor allem sein Bruder Francisco und einige Karmelitinnen[2].

Den reinsten und ungetrübtesten Eindruck geben wohl die Gedichte. In ihnen spricht das Herz selbst. Und es spricht in einigen von ihnen in so lauteren Klängen, als haftete ihm nichts Irdisches mehr an. In einigen – nicht in allen. Das Lied von der Dunklen Nacht ist voll tiefen Friedens. In der seligen Stille dieser Nacht ist von Lärm und Hasten des Tages nichts mehr zu spüren. In der Lebendigen Liebesflamme brennt das Herz im reinsten himmlischen Feuer. Die Welt ist völlig verschwunden. Die Seele umfaßt mit allen Kräften Gott allein. Nur die Wunde zeugt noch von dem Riß zwischen Himmel und Erde.


  1. Im Vorausgehenden II § 1, 3 b und II § 2, 1.
  2. P. Bruno und Baruzi haben aus diesen Quellen geschöpft, P. Bruno vor allem aus den römischen Prozeßakten, Baruzi aus dem Ms. 12738 u. a. der Nationalbibliothek zu Madrid. P. Silverio hat auch einen Teil der Aussagen in die neueste spanische Ausgabe der Werke des hl. Johannes vom Kreuz aufgenommen: Obras IV Anhang 354 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/258&oldid=- (Version vom 6.1.2019)