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Kreuzesnachfolge

„Etwas später, als sich um die beiden schon eine kleine klösterliche Familie gesammelt hatte, war P. Johannes eines Tages durch Übermüdung und Unwohlsein so geschwächt, daß er seinen Prior, P. Antonius, um Erlaubnis bat, seine Kollation etwas vor der festgesetzten Zeit einzunehmen. Aber kaum hatte er die kleine Stärkung genossen, da packte ihn bittere Reue. Er eilte zu P. Antonius und bat ihn um Erlaubnis, sich vor der Kommunität anklagen zu dürfen. Dann trug er im Refektorium Steine und Scherben zusammen. Darauf kniete er während der Abendmahlzeit nieder und geißelte seine entblößten Schultern bis aufs Blut. Er unterbrach die scharfe Disziplin nur, um mit lauter Stimme und in rührenden Worten seine Anklage vorzubringen. Dann fuhr er fort mit den grausamen Streichen, bis er zusammenbrach. Die Brüder wohnten dem Schauspiel mit Schrecken und Bewunderung bei. Schließlich befahl P. Antonius dem unschuldigen Büßer, sich zurückzuziehen und zu beten, daß Gott ihnen allen ihre Armseligkeit verzeihen möge“[1].

Johannes hat auch später keine Schonung für sich gekannt. Seine Zelle war, auch wenn er Oberer war, die ärmste im Haus. Krank und schwach zog er im Auftrag seines Provinzials im Sommer 1586 bei glühender Hitze kreuz und quer durch Spanien, 400 Meilen Weg, im schweren Habit und wollenen Tunik, wie er sie Sommer und Winter hindurch trug. Als Prior in Segovia begann er den Neubau eines Klosters. Aber er war nicht nur Bauführer, sondern half mit eigenen Händen bei der Arbeit, holte Steine von den Felsen herbei – das ganze Jahr hindurch die bloßen Füße nur mit Alpargaten[2] bekleidet.

In dem großen Konflikt innerhalb des Ordens steht er zwischen den feindlichen Brüdern Nicolas Doria und Hieronymus Gratian. Er sieht das Gute und die Fehler auf beiden Seiten und sucht zu vermitteln, aber seine Worte vermögen nichts. Da greift er wieder zur scharfen Disziplin. Bruder Martin, sein Reisegefährte, kann die grausamen Schläge nicht mehr anhören und kommt mit einer brennenden Kerze herbei. Der Heilige erklärt ihm, er sei selbst alt genug, um für sich zu sorgen. Derselbe Bruder Martin pflegt ihn während einer schweren Krankheit und nimmt ihm eine Kette ab, die er sieben Jahre lang getragen hat, um sie ihm nicht mehr zurückzugeben. Beim Ablösen fließt Blut. Dagegen versucht P. Johannes Evangelista, auf einer gemeinsamen Reise vergeblich, ihn zum Ablegen eines Bußkleides zu überreden. Er entdeckt, daß der Heilige, unter dem


  1. P. Bruno, Saint Jean, S. 92.
  2. Schuhe von Hanfgeflecht.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/255&oldid=- (Version vom 6.1.2019)