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Kreuzesnachfolge

seiner Stufe ist es, nach seiner Befähigung und seinem Vermögen sich zu erheben und zu wachsen zum Bilde Gottes; das Wunderbarste und Göttlichste aber ist es, Mitarbeiter zu sein an der Bekehrung und Heimführung der Seelen; denn in ihr strahlt Gottes eigenes Wirken wieder, und dessen Nachahmung ist die größte Herrlichkeit. Darum nannte es Christus, unser Herr, das Werk Seines Vaters, das Anliegen Seines Vaters. Es ist auch eine offenkundige Wahrheit, daß das Mitgefühl mit dem Nächsten um so mehr wächst, je mehr die Seele durch die Liebe mit Gott verbunden ist. Denn je mehr sie Gott liebt, desto mehr verlangt sie, daß Er von allen geliebt und verehrt werde. Und je mehr sie danach verlangt, desto mehr bemüht sie sich darum, sowohl durch Gebet als durch alle andern Übungen, die dazu notwendig und tauglich sind. Und so groß ist die Glut und Stärke ihrer Liebe, daß jene, die im Besitz Gottes sind, sich nicht mit ihrem eigenen Gewinn begnügen und zufrieden geben können; es scheint ihnen zu wenig, allein in den Himmel zu gehen, sie bemühen sich mit großem Verlangen und himmlischen Begierden und außerordentlicher Sorgfalt, viele mit sich zum Himmel hinaufzuführen. Das kommt wohl von ihrer großen Liebe zu Gott, es ist die eigene Frucht und die Neigung, die dem vollkommenen Gebet und der Beschauung entspringen“[1].

Ist der Seeleneifer hier als Frucht der Vereinigung gefaßt, so ist andererseits die Liebe zum Nächsten ein wichtiges Mittel auf dem Weg zur Vereinigung: „Zwei Dinge .... dienen der Seele als Flügel, um sich zur Vereinigung mit Gott zu erheben: das aufrichtige Mitleid mit dem Tode Jesu und mit dem Nächsten. Und ist die Seele von Mitleid ergriffen mit dem Leiden und Kreuz des Herrn, dann beherzigt sie auch, daß Er all dies auf sich nahm zu unserer Erlösung“[2]. D.h. wer in liebender Versenkung eingeht in die Gesinnung des Heilands am Kreuz, in die Liebe bis zur äußersten Hingabe seiner selbst, der wird eben damit geeint mit dem göttlichen Willen, denn es ist der Erlösungswille des Vaters, der sich in der Erlöserliebe und -hingabe Jesu erfüllt; und man wird eins mit dem göttlichen Sein, das sich selbst hingebende Liebe ist: in der wechselseitigen Hingabe der göttlichen Personen im innertrinitarischen Leben wie im Wirken nach außen. So gehören eigene Seinsvollendung, Vereinigung mit Gott und Wirken für die Vereinigung anderer mit Gott und ihre Seinsvollendung unlöslich zusammen. Der Zugang zu all dem aber ist das Kreuz. Und die Predigt vom Kreuz wäre eitel, wenn


  1. Aussprüche über das geistliche Leben, 10. Ausspruch, E. Cr. III 63 f.
  2. a.a.O. 11. Ausspruch, E. Cr. III 64.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/252&oldid=- (Version vom 6.1.2019)