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Kreuzesnachfolge

„Da Ihre Seele sich in dieser Finsternis und Leere der geistigen Armut befindet, so glauben Sie, es fehle Ihnen alles und alle Menschen hätten Sie verlassen. Doch das ist kein Wunder, da Sie sogar meinen, Gott hätte Sie verlassen; doch es fehlt nichts.... Wer nichts anderes sucht als Gott, wandelt nicht in der Finsternis, mag er auch noch so viel Dunkel und Armut in sich sehen. Wer nicht in Selbstüberhebung wandelt und nicht seinem Geschmack folgt, weder was Gott noch was die Geschöpfe angeht, und in nichts auf seinem eigenen Willen besteht, weder innerlich noch äußerlich, der wird nichts straucheln.... Sie waren niemals in besserer Verfassung als jetzt, denn nie waren Sie so demütig und unterwürfig und hielten niemals so wenig von sich selbst und von allen Dingen der Welt. Nie erkannten Sie sich selbst als so schlecht und Gott als so gut, nie dienten Sie Gott so rein und uneigennützig wie jetzt.... Was wollen Sie mehr? .... Was denken Sie – ist der Dienst Gottes etwas anderes als das Böse fliehen, Seine Gebote beobachten und unsere Sachen besorgen, so gut wir können? Wenn Sie das tun, was haben Sie dann noch andere Wahrnehmungen, Erleuchtungen und Genüsse nötig, da die Seele darin gewöhnlich so manchen Täuschungen und Gefahren begegnet? .... Darum ist es eine große Gnade, wenn Gott die Seele in Dunkelheit und Entblößung führt, so daß sie durch ihre Vermögen nicht mehr irregeführt werden kann.... Leben wir hier auf Erden als Pilger und Arme, als Verbannte und Waisen, in Trockenheit, ohne Weg und ohne irgend etwas, aber alles erhoffend....“[1]

Der Heilige schreibt voller Liebe an seine geistlichen Töchter: aber in einer Liebe, die nichts anderes ist als das herzliche Verlangen nach ihrem ewigen Heil. „Solange uns Gott dies nicht im Himmel verleiht, harren Sie aus in .... Selbstverleugnung und Geduld, mit dem Wunsche, diesem großen Gott durch Ihr Leiden in Seiner Demut und Kreuzesliebe in etwas ähnlich zu werden. Besteht unser Leben nicht in der Nachahmung (des Gekreuzigten), so hat es keinen Wert....“[2]

Darum konnte er nicht an die Echtheit angeblicher höherer Gebetsgnaden in einer Seele glauben, der es an Demut mangelte. Als er vom Generalvikar der Unbeschuhten Karmeliten, P. Nikolaus Doria, beauftragt wurde, den Geist einer Nonne zu prüfen, die für hochbegnadigt galt, gab er dieser Überzeugung in seinem Gutachten


  1. 18. Brief (nach neuerer Zählung der 19.), an Juana de Pedraza, E. Cr. III 101 f.
  2. 20. (21.) Brief, an Mutter Anna von Jesus in Segovia, vom 6. VII. 1591, E. Cr. III 105.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/247&oldid=- (Version vom 6.1.2019)