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Brautsymbol und Kreuz

mit der Menschheit[1]. Durch sie hat sich der Gottmensch den Weg zu den einzelnen Seelen eröffnet. Und jedesmal, wenn eine Seele sich Ihm so vorbehaltlos übergibt, daß Er sie zur mystischen Vermählung erheben kann, wird Er gleichsam aufs neue Mensch. Freilich bleibt der wesentliche Unterschied, daß in Jesus Christus beide Naturen in einer Person eins sind, während in der mystischen Vermählung zwei Personen in Verbindung treten und in ihrer Zweiheit erhalten bleiben. Aber durch die wechselseitige Hingabe beider kommt eine Vereinigung zustande, die nahe an die hypostatische heranreicht. Sie öffnet die Seelen für den Empfang des göttlichen Lebens und gibt durch die völlige Unterwerfung des eigenen Willens unter den göttlichen dem Herrn die Möglichkeit, über solche Menschen wie über Glieder Seines Leibes zu verfügen. Sie leben nicht mehr ihr Leben, sondern das Leben Christi, sie leiden nicht mehr ihr Leiden, sondern das Leiden Christi. Darum freuen sie sich auch an dem Gnadenleben, das der Herr in anderen Seelen entzündet, wenn der Funke der göttlichen Liebe sie berührt und der Wein dieser Liebe sie in einen seligen Rausch versetzt[2].

Die Seele, die zur mystischen Vermählung gelangt ist, befindet sich im innersten Weinkeller des Geliebten, d.h. auf der höchsten Stufe der Liebe. Der Heilige unterscheidet hier sieben Stufen der Liebe, den sieben Gaben des Heiligen Geistes entsprechend, und sieht als letzte und vollendende Gabe die der Furcht an: „Hat .... die Seele den Geist der Furcht vollkommen erreicht, dann besitzt sie auch den Geist der Liebe in seiner Vollkommenheit; denn diese Furcht, die letzte der sieben Gaben, ist ganz kindlich, und die vollkommene Furcht des Kindes entspringt der vollkommenen Liebe zum Vater“[3]. In dieser innersten Vereinigung trinkt die Seele von dem Geliebten. Wie ein Trunk „sich durch alle Glieder und Adern des Körpers ergießt und ausbreitet, so ergießt sich auch diese wesenhafte Mitteilung Gottes über die ganze Seele...., soweit ihr Wesen und ihre geistigen Fähigkeiten es gestatten. Mit dem Verstand trinkt sie die Weisheit und Wissenschaft, mit dem Willen die süßeste Liebe und mit dem Gedächtnis die Erquickung und Wonne, die


  1. Als Vermählung mit der Menschheit hat Johannes vom Kreuz die Menschwerdung in den Romanzen über die Schöpfung behandelt. (Obras IV 328 ff.) Diese Vermählung erscheint hier sogar als Beweggrund der Schöpfung. Erstaunlicherweise ist der Sündenfall in den Romanzen ganz übergangen. Die Erlösung erscheint als Befreiung vom Joch des Gesetzes.
  2. Vgl. die Erklärung zu Str. 25 (16), Obras III 335 u. 85.
  3. Erklärung zu Str. 26 (17) V. 1, Obras III 343 u. 91.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/229&oldid=- (Version vom 6.1.2019)