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Der Seele Brautgesang

b) Der leitende Gedankengang nach der Darstellung des Heiligen

Wenn wir den Gesang in seiner ersten Fassung unbefangen auf uns wirken lassen, so erscheint er uns als getreuer Ausdruck des ganzen mystischen Weges. Wir unterstreichen „mystischen“, weil der Heilige selbst in dem schon erwähnten Rückblick in der Erklärung zu Str. 27 (22)[1] sagt, die ersten 5 Strophen seien den Anfängen des geistlichen Lebens gewidmet, der Zeit, in der die Seele sich in Betrachtungen und Abtötungen übt; erst mit der 6. Strophe, so fügt die zweite Fassung ein, beginne die Darstellung des beschaulichen Lebens. Wir hören aber schon aus dem Sehnsuchtsruf, mit dem der Gesang beginnt: A donde te escondiste? (Wo hast Du Dich verborgen?), die Klage einer Seele, die im tiefsten Herzen von Gottesliebe verwundet ist. Sie kennt ihren Herrn sicher nicht nur „vom Hörensagen“, sondern ist Ihm persönlich begegnet, hat Seine Berührung im Innersten erfahren. Ihr Schmerz ist der Schmerz der Liebenden, die des Geliebten beglückende Gegenwart kosten durfte und nun entbehren muß. Er hat sie seufzend zurückgelassen; denn die Abwesentheit des Geliebten ruft ein ständiges „Seufzen im Herzen der Liebenden hervor“, „besonders wenn sie schon etwas von Seiner süßen, erquickenden Gegenwart gekostet hat und dann in Trockenheit und Einsamkeit verlassen zurückbleibt....“[2] Müssen wir nicht an hohe mystische Gnaden denken, wenn von „brennenden Liebesberührungen“ gesprochen wird, „die nach Art eines feurigen Pfeils die Seele verwunden und durchdringen und sie ganz ausgebrannt vom Feuer der Liebe zurücklassen“? Der Wille wird dabei so entflammt, daß es der Seele vorkommt, „als werde sie in dieser Flamme verzehrt, als gerate sie außer sich und werde ganz erneuert.... wie der Vogel Phönix, der verbrennt und neu geboren wird“[3]. Wir erkennen in dieser Schilderung die Liebesvereinigung wieder, die nach der Darstellung der heiligen Mutter Teresia und des Vaters Johannes selbst auf die mystische Verlobung und Vermählung vorbereitet[4]. Es ist für die Seele ein völlig neuer Zustand, den sie selbst noch nicht versteht. Sie sucht deshalb den Entschwundenen in der Betrachtung der Geschöpfe, aber sie findet darin keine Befriedigung. Das unterscheidet sie deutlich von jenen


  1. Obras III 131 f. u. 319 f.
  2. Erklärung zu Str. 1 V. 2, Obras III 17 u. 204 f.
  3. Erklärung zu Str. 1 V. 4, Obras III 18 u. 205 f.
  4. Vgl. im Vorausgehenden die Ausführungen über die verschiedenen Arten der Vereinigung.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/210&oldid=- (Version vom 6.1.2019)