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Der Geistliche Gesang und sein Verhältnis zu den andern Schriften

unterscheidet. Die Erläuterungen wirken nun fast wie ein Wörterbuch dieser Bildersprache. In gewisser Weise ist das nahegelegt durch die Eigenart vieler Bilder. Sie stehen in keiner ursprünglichen Einheit mit dem, was sie darstellen sollen, wie das Symbol im engeren und eigentlichen Sinn: etwa das der Nacht oder der Flamme. Es besteht wohl eine gewisse Ähnlichkeit in irgendeiner Hinsicht zwischen dem Bild und dem, was es bezeichnen soll, und damit eine sachliche Grundlage für das Zeichenverhältnis. Aber diese Grundlage reicht nicht aus, um den Sinn der Bilder ohne weiteres zu verstehen. Ihre Sprache muß erlernt werden und erscheint überdies in der Wahl ihrer Ausdrücke weit willkürlicher als eine natürliche Wortsprache, wenn auch nicht so willkürlich wie eine Kunstsprache oder ein völlig nach Gutdünken gewähltes Zeichensystem. Diese Wahlfreiheit und der lose sachliche Zusammenhang haben zur Folge, daß die Bilder nicht eindeutig sind, sondern mancherlei Auslegungen zulassen; umgekehrt kann das, worauf sie hinweisen, auch auf andere Weise dargestellt werden, weil sie kein notwendiger Ausdruck sind. Mit all diesen Zügen ist das umschrieben, was wir Allegorie nennen. Sie ist im Geschmack der Zeit, ein Kennzeichen der Barockpoesie. Johannes kannte die Dichtkunst seiner Zeit sehr wohl und hatte sich durch sie formen lassen. So lag ihm die Anwendung dieses Kunstmittels schon natürlicherweise nahe, und er handhabt es in der Dichtung mit Meisterschaft[1]. Wenn er aber in der Auslegung Worterklärung an Worterklärung reiht und manchmal für einen bildlichen Ausdruck mehrere ganz verschiedene Erklärungen gibt – z.B. werden in der 2. Strophe die Hirten als die Begierden und Neigungen der Seele oder als die Engel gedeutet –, so geht er über das hinaus, was die Allegorie als solche fordert, und beeinträchtigt den Eindruck der Dichtung durch Auflösung der Einheit in eine Fülle von Einzelheiten und Unterstreichung des Seltsamen und Willkürlichen der Bilder. Ob nicht auch hinter dieser Häufung der Erklärungen die Absicht steht, bedenklichen und gefährlichen Deutungen zuvorzukommen? Das Herz des Dichters mag sich dabei manchmal gegen das Verfahren des Auslegers aufgelehnt haben. Seine Versicherung, daß er durch seine eigenen Deutungen dem Wehen des Geistes in der Seele der Leser keine Schranken setzen wolle, darf jedenfalls als Aufforderung genommen werden, sich vor allem an die Dichtung selbst zu halten.



  1. Wie weit er hier rein natürlich als Künstler schafft, wie weit unter besonderer Eingebung des Heiligen Geistes, ist nicht abzumessen. Wir werden auf diese Frage noch zurückkommen.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/209&oldid=- (Version vom 7.1.2019)