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Der Geistliche Gesang und sein Verhältnis zu den andern Schriften

des Aufstiegs und der Dunklen Nacht hat sich uns die Vermutung aufgedrängt, daß in den wichtigen Fragen der Abgrenzung des eigentlich Mystischen vom gewöhnlichen Gnadenleben die Darstel­lung nicht ganz unbefangen sein mag, sondern beeinflußt von dem Gedanken an das wachsame Auge der Inquisition und den Verdacht des Illuminismus, dem alles Mystische von vornherein ausgesetzt war[1]. Der Geistliche Gesang scheint von dieser Rücksicht noch viel stärker beeinflußt zu sein. Und die Umformung in der zweiten Bearbeitung scheint wesentlich davon bedingt. Diese Umformung hat sich ja nicht auf die Erklärungen beschränkt, sondern tief in den Gesang selbst hineingeschnitten.

Wir möchten hier zunächst auf vier Tatsachen hinweisen, die augenscheinlich in einem inneren Zusammenhang stehen: 1. Die zweite Fassung enthält eine Strophe, die ursprünglich nicht vorhan­den war. (Diese Strophe tauchte allerdings schon in einigen Druck­ausgaben auf, die sich im übrigen nach der ersten Fassung richteten, wurde aber wahrscheinlich aus einem Ms. der zweiten Fassung hin­übergenommen[2].) 2. Die zweite Fassung zerlegt den Gesang in drei Abschnitte: I, II, III. 3. Sie nimmt eine Umordnung der Strophen vor und durchschneidet so den ursprünglichen Aufbau. 4. Sie fügt im Anschluß an den Gesang, vor dem Beginn der Erklärung zur ersten Strophe, ein argumentum, eine kurze Angabe des leitenden Gedankengangs, ein. Nach dieser Angabe behandeln die Strophen den Weg einer Seele von dem Augenblick an, wo sie sich dem Dienst Gottes zu widmen begann, bis zur höchsten Stufe der Vollkommen­heit, der geistlichen Vermählung; darum werden auch die drei Stän­de oder Wege berührt, die zu diesem Ziel führen: der Reinigungs-, Erleuchtungs- und Einigungsweg (oder der der Anfangenden, der Fortschreitenden – bis zur geistlichen Verlobung – und der Voll­kommenen: der Stand der Vermählung). Die letzten Strophen be­handeln noch den Stand der Seligen, dem die Vollkommenen zu­streben.

Dem eingefügten Argumentum mit seiner Hervorhebung der ge­wohnten Unterscheidung der drei Wege entspricht die nachträgli­che Einteilung des Gesanges in drei Abschnitte. (Übereinstimmend wird im Rückblick auf den durchmessenen Weg bei Beginn der zweiten Fassung eine Anspielung auf die drei Wege eingeflochten[3].)


  1. Vgl. die wohltuend sachliche Darstellung der Inquisition bei J. Brouwer, De achtergrond der Spaanse mystiek, Zutphen 1935, S. 79 ff.
  2. Vergl. P. Silverio im Anhang zum Geistlichen Gesang, Obras III 456.
  3. Vergl. die Erklärung zu Str. 27 (B, Obras III 131 f.) mit der zu Str. 22 (J, Obras III 319 f.).
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 207. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/207&oldid=- (Version vom 7.1.2019)