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da sie es immer in sich fühlt. Doch gibt es dabei noch jenen Unterschied von Schlaf und Erwachen. Es ist manchmal, als ob der Geliebte ruhend bei ihr verweilte, sodaß kein Austausch von Liebe und Erkenntnis möglich ist, und dann wieder, als ob Er erwache. Glück­lich die Seele, die immer lebendig fühlt, daß Gott in ihr ruht und Erquickung findet! In unermeßlich stiller Ruhe muß sie sich bewahren, damit keine Bewegung und kein Geräusch den Geliebten störe. Wollte Er immer wachend in ihr bleiben und ihr die Schätze der Erkenntnis und Liebe mitteilen, dann wäre sie schon im Glorienstand. In Seelen, die noch nicht bis zur Liebesvereinigung gelangt sind, bleibt Er meist verborgen. Sie nehmen Ihn für gewöhnlich nicht wahr, sondern nur, wenn Er sie wonnevoll erweckt. Dieses Erwecken ist ein anderes als jenes im Stand der Vollkommenheit. Es ist auch hier nicht alles so verborgen vor dem Teufel und vor dem Menschenverstand wie dort, denn bei solchen Seelen ist noch nicht alles ganz geistig; es finden sich noch Regungen der Sinnlichkeit in ihnen. In jenem Erwachen aber, das der Bräutigam selbst bewirkt, in der vollkommenen Seele, ist alles vollkommen, weil Er es voll­zieht. Das Aufatmen und Erwachen der Seele ist dann wie bei einem Menschen, der wach wird und Atem holt; sie empfindet darin das Anhauchen Gottes[1]. „Deshalb spricht sie:

Mit Deinem süßen Hauche,
Voll Glück und Herrlichkeiten,
Wie zart läßt Du in Liebe mich entbrennen!

Von diesem Hauchen Gottes wollte und will ich nicht sprechen; denn ich erkenne klar, daß ich es nicht richtig zu sagen weiß, und es wird geringer erscheinen, als es ist, wenn ich davon rede. Denn es ist ein Anhauchen, das Gott wirkt; darin haucht sie in jenem Erwecken der erhabensten Erkenntnis der Gottheit der Heilige Geist an; und in dem Maß der Erkenntnis, worin sie ganz tief in den Heiligen Geist versinkt, wird sie aufs zarteste in Liebe entflammt, dem entsprechend, was sie geschaut hat. Und da dieser Hauch voll Gnade und Herrlichkeit ist, erfüllt sie der Heilige Geist mit Glück und Beseligung, sie gerät in Liebe außer sich und wird in unaussprechlicher und unbegreiflicher Weise in die Tiefe Gottes hinein­gezogen; und darum breche ich hier ab“[2].



  1. a. a. O. Str. 4 V. 3, Obras IV 100 ff. u. 210 ff.
  2. Ende der Lebendigen Liebesflamme, Obras IV 102 u. 213.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/193&oldid=- (Version vom 7.1.2019)