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Menschen, die sich noch nicht von allen Begierden und Neigun­gen freigemacht haben, sollen darum überzeugt sein, daß sie ver­kehrt urteilen. Was für den Geist gewöhnlich und geringfügig ist, aber die Sinne befriedigt, das halten sie für etwas Großes, was für den Geist etwas Hohes ist, aber die Sinne wenig anspricht, das ach­ten sie gering. Bei dem sinnlichen Menschen, d.h. bei dem, der ganz nach seinen natürlichen Begierden und Neigungen lebt, werden auch Begierden, die im Geist ihren Ursprung haben, zu bloß natürlichen. Selbst wenn die Seele nach Gott verlangt, ist dies Verlangen nicht immer übernatürlich, sondern nur, wenn Gott es eingießt und ihm Kraft verleiht.

So war der Sinn der Seele mit seinen Gelüsten und Neigungen dunkel und blind[1]. Nun aber ist er durch die übernatürliche Ver­einigung mit Gott erleuchtet, ja mehr noch: er ist selbst mit seinen Vermögen ein hellglänzendes Licht und kann „in Schönheit sonder­gleichen Wärme und Licht vereint weih’n dem Geliebten“.

Die Höhlen der Seelenkräfte sind von der Lichtfülle der göttlichen Lampen durchflossen. Sie selbst brennen nun und senden die Glanzesfülle, die sie empfangen haben, in liebeglühender Beseligung in Gott zu Gott, wie das Glas den Glanz des einströmenden Sonnenlichtes wiederstrahlt, doch viel erhabener, weil der Wille mitwirkt. Es geschieht in einer ganz einzigartigen Fülle, die jedes gewöhnliche Denken übersteigt und sich durch keine Worte ausdrücken läßt. In der Fülle, in der der gottgeeinte Verstand die Weisheit aufnimmt, strahlt er sie auch wieder zurück. Und in der Vollkommenheit, wo­mit der Wille der göttlichen Güte geeint ist, gibt er sie Gott in Gott wieder zurück. Denn die Seele empfängt nur, um zurückzugeben: alles Licht und alle Liebeswärme, die der Geliebte ihr mitteilt, schenkt sie Ihm wieder. Sie ist durch die wesentliche Umgestaltung ein Schatten Gottes geworden, und „so tut sie in Gott durch Gott dasselbe, was Er in ihr durch sich selbst tut, und in derselben Weise, wie Er es tut.... Wie .... Gott mit freiem und gnadenvollem Willen sich mitteilt, so gibt auch ihr Wille – um so frei- und groß­mütiger, je inniger er mit Gott vereint ist – in Gott, Gott Gott selbst.... Sie sieht hier, daß Gott ihr vollkommen gehört, daß sie als Adoptivkind mit vollem Eigentumsrecht in Seinen Erbbesitz ein­getreten ist.... Als ihr Eigentum kann sie Ihn...., wenn sie will, geben.... Und so gibt sie Ihn ihrem Geliebten, .... Gott selbst...., der sich ihr hingegeben hat. Und sie empfindet .... unaus­sprechliche Wonne und Befriedigung bei der Wahrnehmung, daß


  1. a. a. O. Str. 3 V. 4, Obras IV 84 ff. u. 195 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/188&oldid=- (Version vom 7.1.2019)