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und bekommt es an den geistigen Gnadengütern Anteil, so zieht es den Zügel an und .... bändigt die feurige Lebhaftigkeit des schnellfüßigen geistigen Pferdes; wenn es nämlich seine Kraft ausnützen würde, müßte der Zügel zerreißen....“[1]

Die kleine Einschaltung über Abarten der Liebesverwundung ist einmal bemerkenswert, weil sie zeigt, wie sorgfältig sich der Heilige bemüht, seine eigene innere Erfahrung zu ergänzen durch das, was ihm in andern Seelen zugänglich wird, wie er aber rein und klar die Unterschiede herausarbeitet und fest bei dem bleibt, was ihm grundsätzlich klar geworden ist: so erhaben die Liebesverwundung im visionären Erlebnis sein mag – nichts reicht an das rein geistige Geschehen im Wesen der Seele heran. Dem entspricht die sehr bezeichnende Auffassung des Verhältnisses von Leib und Seele, die sich an dieser Stelle andeutet: die Seele als Geist ist das wesenhaft Herrschende, wenn sie auch im Zustand des Falls – selbst noch in der höchsten Erhebung, die auf Erden denkbar ist – vom Leib be­lastet und durch die irdische Hülle niedergedrückt wird; und dieser ursprünglichen Ordnung der Natur paßt sich die Gnadenordnung an und spendet ihre Gaben vornehmlich und in erster Linie der Seele, erst abgeleiteterweise und eventuell durch Vermittlung der Seele, dem Leib.

Die Hand, die die Wunde schlägt, ist der liebevolle und allmächtige Vater: „eine Hand...., die ebenso großmütig und freigebig wie mächtig und reich Ihre .... kostbaren Geschenke der Seele mit­teilt, wenn Sie sich öffnet, um Ihre Gnade auszuspenden....“ Die Seele empfindet Ihre liebevolle Herablassung und Berührung um so sanfter, weil diese Hand die ganze Welt in den Abgrund schleudern könnte, wenn Sie sich etwas empfindlicher darauf legte. Sie tötet und belebt und niemand kann Ihr entfliehen. „Du tötest aber, o göttliches Leben, nur um Leben zu geben.... Wenn Du züchtigst, berührst Du sanft, aber dies reicht hin, um die ganze Welt zu vernichten; doch wenn Du die Seele erquickst, zeigst Du Dich überaus herablassend, und die Tröstungen Deiner Süßigkeit sind unzählbar. Du hast mich verwundet, um mich zu heilen, o göttliche Hand; Du hast in mir getötet, was mich unter dem Baum des Todes fern vom göttlichen Leben gefangen hielt.... Dies hast Du vollbracht mit der Freigebigkeit Deiner großherzigen Liebe in jener Berührung, bei der Du mich mit dem Abglanz Deiner Herrlichkeit und mit dem Abbild Deines Wesens berührtest (Hebr. 1,3). Es ist dies Dein eingeborener Sohn; in Ihm, der Deine Weisheit ist, reichst Du mit


  1. Lebendige Liebesflamme, Str. 2 V. 2, Obras IV 31 ff. u. 135 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/177&oldid=- (Version vom 7.1.2019)