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Tiefen der Gottheit’ (1 Cor. 2,10). Denn es ist der Liebe eigen, alle Schätze des Geliebten zu erforschen“[1].

Der liebliche Feuerbrand verursacht eine wonnevolle Wunde; „denn da es ein Feuer süßer Liebe ist, wird es auch eine Wunde sü­ßer Liebe sein und die Seele süß erquicken. Wie das materielle Feuer schon vorhandene Wunden, auf die es trifft, in Brandwunden verwandelt, so verletzt der Feuerbrand der Liebe die Wunden des Elends und der Sünde, heilt sie dann und wandelt sie in Wunden der Liebe. Auch die Wunden, die er selbst schlägt, heilt er – das unterscheidet ihn vom materiellen Feuer –, und sie können durch nichts anders geheilt werden. Aber er heilt sie, um neue Wunden zu schlagen. „Sooft der Feuerbrand der Liebe mit der Wunde der Liebe in Berührung kommt, vergrößert er die Liebeswunde, und so heilt und führt er die Seele umso mehr zur Gesundung, je stärker er sie verwundet...., bis die Wunde so groß ist, daß die Seele ganz in der Liebeswunde aufgeht. Und so .... gleichsam zu einer Wunde gemacht, ist sie ganz heil in der Liebe, d.h. umgestaltet in der Liebe....; sie ist ganz verwundet und ganz heil“. Und doch läßt der Feuerbrand nicht ab zu wirken, sondern nimmt wie ein guter Arzt die Wunde in liebevolle Behandlung.

Diese höchste Art der Liebesverwundung „wird durch unmittel­bare Berührung der Gottheit in der Seele verursacht ohne irgend eine geistige oder einbildliche Form und Gestalt....“ Es gibt aber noch andere sehr erhabene Arten des Entbrennens, bei denen eine geistige Form mitwirkt. Der Heilige gibt hier eine sehr ausführliche Schilderung, wie die Seele durch einen Seraph mit einem brennen­den Pfeil oder Speer verwundet werden kann. Es ist darunter kaum etwas anderes zu verstehen als die Herzverwundung unserer hl. Mutter Teresia. Seine Darstellung gibt aber bemerkenswerte Züge, die Teresia in ihrem eigenen Bericht[2] nicht verzeichnet hat. Das ist nicht erstaunlich, da sie Johannes ihre ganze Seele offenbart hatte und sich dabei jedenfalls rückhaltloser aussprach als in der literari­schen Darstellung. Die Seele – so erzählt er – „fühlt die zarte Verwundung und das Heilkraut, mit dem die Spitze des Speeres wirksam geschärft war, als lebendigen Punkt im Wesen des Geistes, gleichsam im Herzen der durchbohrten Seele. Und an diesem inner­sten Punkt der Verwundung, die mitten im Herzen des Geistes, wo sie die zarteste Wonne verkostet, zu sein scheint – wer kann sich da treffend ausdrücken? –, fühlt die Seele ein ganz kleines Senfkörnlein


  1. a. a. O. Str. 2 V. 1, Obras IV 29 f. u. 133 ff.
  2. Das Leben der hl. Teresia von Jesu, 29. Hauptstück (Neue deutsche Aus­gabe, Bd. I, München 1933, S. 280 ff.).
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/175&oldid=- (Version vom 7.1.2019)