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a) An der Schwelle des ewigen Lebens

Die Seele ist der Nacht entronnen. Was nun in ihr vorgeht, das ist viel mächtiger, als alle Worte es sagen können. Die Sehnsuchtsrufe „o“ und „wie“ suchen dem Ausdruck zu geben. Darum hat der Heilige gezögert, die Bitte seiner geistlichen Tochter Anna de Peñalosa um Erklärung der vier Strophen zu erfüllen. Er fühlte, wie unzulänglich die Sprache sei, um etwas so ganz Geistiges und Innerliches zu erklären. Nach einiger Zeit aber schien es ihm, daß der Herr ihm „in etwa das Verständnis erschlossen und einige Wärme verliehen“ habe, ja ihn selbst zu dem Werk aufmuntere[1].

„Einige Wärme“! In der Tat hat man den Eindruck, daß nicht nur die vier Strophen des Gesanges, sondern auch die ganze Erklärung ein Ausbruch des Lebendigen Liebesflamme sind. So können auch wir nur mit heiliger Scheu diesen göttlichen Geheimnissen im Innersten einer auserwählten Seele nahen. Nachdem einmal der Schleier gelüf­tet wurde, ist es aber nicht erlaubt, davon zu schweigen. Wir haben ja hier das vor uns, was Aufstieg und Nacht – so wie sie uns vor­liegen – uns schuldig geblieben sind: die Seele am Ziel des langen Kreuzwegs, in der beseligenden Vereinigung.

Es wurde früher gesagt, daß auch die ersten Schriften offenbar von jemandem verfaßt sind, der bereits am Ziel angelangt ist. Das Lied von der Dunklen Nacht ist kaum anders zu verstehen. Aber in der Erklärung der Strophen hat er sich zurückversetzt in die Zeit der Nacht und sie so geschildert, als ob er noch davon umfangen wäre. Nur vorblickend hat er etwas über das Ziel gesagt. Jetzt aber ist er eingetaucht in das strahlende Licht des Auferstehungsmorgens. Wenn er jetzt noch von Kreuz und Nacht spricht, so geschieht es rückblickend. Gerade dieser Rückblick macht die Schrift in unserem Zusammenhang bedeutungsvoll: das neue Leben ist aus dem Tod ge­boren, die Herrlichkeit der Auferstehung ist der Lohn für das treue Aushalten in Nacht und Kreuz. So „zahlt sie jede Schuld“.

Die Seele „fühlt, wie aus ihrem Innern Ströme lebendigen Wassers hervortreten“[2], und es kommt ihr vor, als sei sie „schon so wirksam in Gott umgewandelt, so mächtig von Ihm ergriffen und so über­reich mit Gaben und Tugenden ausgestattet, daß nur mehr ein leich­tes Gewebe sie von der ewigen Seligkeit trenne“. Wenn diese zarte Liebesflamme, die in ihr brennt, sie ergreift, so wird sie jedesmal „gleichsam verklärt in süßer und mächtiger Herrlichkeit ....“ und


  1. Lebendige Liebesflamme, Vorwort an Anna de Peñalosa, Obras IV 3 f. u. 105 f.
  2. Joan. 7,38.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/167&oldid=- (Version vom 7.1.2019)