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Die Seele im Reich des Geistes und der Geister

Aber wenn er sich in freier Hingabe im Zeitlichen befestigt, dann bekommt er die Hand des lebendigen Gottes zu spüren, der ihn kraft Seiner Allmacht vernichten, durch das rächende Feuer der verschmähten göttlichen Liebe verzehren oder im ewigen Verzehrt werden erhalten kann wie die gefallenen Engel. Dieser zweite und eigentlichste Tod wäre unser aller Los, wenn nicht Christus mit Seinem Leiden und Sterben zwischen uns und die göttliche Gerechtigkeit träte und der Barmherzigkeit einen Weg eröffnete.

In Christus war durch Seine Natur und Seine freie Entscheidung nichts, was der Liebe widerstand. Er lebte jeden Augenblick Seines Daseins in der restlosen Hingabe an die göttliche Liebe. Aber Er hatte in der Menschwerdung die ganze Sündenlast der Menschheit auf sich genommen, sie mit Seiner erbarmenden Liebe umfaßt und in Seine Seele geborgen; im Ecce venio, womit Er Sein irdisches Leben begann, und ausdrücklich erneut in Seiner Taufe und im Fiat! von Gethsemani. So vollzog sich der sühnende Brand in Seinem Innern, in Seinem ganzen, lebenslangen Leiden, in der schärfsten Form aber im Ölgarten und am Kreuz, weil hier die spürbare Seligkeit der unaufhebbaren Vereinigung aufhörte, um Ihn ganz dem Leiden preis zugeben und dies Leiden zum Erlebnis der äußersten Gottverlassenheit werden zu lassen. Im Consummatum est wird das Ende des sühnenden Brandes verkündigt und im Pater, in manus tuas commendo spiritum meum die endgültige Rückkehr in die ewige, ungetrübte Liebesvereinigung.

Im Leiden und Sterben Christi sind unsere Sünden vom Feuer verzehrt worden. Wenn wir das im Glauben annehmen und wenn wir in gläubiger Hingabe den ganzen Christus annehmen, d.h. aber, daß wir den Weg der Nachfolge Christi wählen und gehen, dann führt Er uns „durch Sein Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung“. Genau das ist es, was in der Beschauung erfahren wird: das Hindurchgehen durch den sühnenden Brand zur seligen Liebesvereinigung. Daraus erklärt sich ihr zwiespältiger Charakter. Sie ist Tod und Auferstehung. Nach der Dunklen Nacht strahlt die Lebendige Liebesflamme auf.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/165&oldid=- (Version vom 31.7.2018)