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Die Seele im Reich des Geistes und der Geister

daß darin der Verstand in erhabener und wonnevoller Weise Gott verspüre, daß sie in gar keinem Verhältnis zu den Werken der Seele stünden, daß man sich nur dafür bereiten, aber sie sich in keiner Weise verschaffen könne, daß sie rein passiv empfangen würden und zur Vereinigung mit Gott hinführen sollten. Das alles weist auf etwas hin, was außerhalb des normalen Gnadenweges liegt: eine vorübergehende Vereinigung, die einen Vorgeschmack der dauernden gibt.

Wie ist es zu verstehen, daß sich Johannes vom Kreuz in dieser entscheidenden Frage nicht klar und eindeutig ausgesprochen hat? Um das bestimmt zu beantworten, müßten wir mehr von dem persönlichen Leben des schweigsamen Heiligen wissen, als er durch seine Schriften verraten und seinen Zeitgenossen anvertraut hat. Nur als Möglichkeiten können wir aussprechen, was die Geschichte seiner Zeit und die neueren Forschungen über die Textgeschichte seiner Werke nahelegen[1]. Die großen religiösen Kämpfe der Zeit, die immer weiter um sich greifenden Irrlehren, die Gefahren eines ungesunden Mystizismus hatten zu einer scharfen Überwachung des religiösen Schrifttums geführt. Jeder, der über Fragen des inneren Lebens schrieb, mußte damit rechnen, daß die Inquisition auf ihn und seine Werke ihre Hand legte. Es wäre denkbar, daß Johannes aus Vorsicht darauf bedacht gewesen wäre, seine eigene Lehre gegenüber dem Illuminatentum scharf abzugrenzen (wie es an manchen Stellen offenbar geschieht) und den mystischen Werdegang in möglichst nahe Verbindung mit dem normalen Gnadenweg zu bringen. Daß bei der Herausgabe seiner Schriften eine solche Absicht maßgebend gewesen ist, hat die Nachprüfung der älteren Ausgaben an den Handschriften und der Vergleich der Handschriften untereinander erwiesen. Liebesflamme und Geistlicher Gesang liegen uns handschriftlich in doppelter Fassung vor. Die späteren Bearbeitungen zeigen das Bestreben, durch Abschwächung kühner Ausdrücke und eingefügte Erläuterungen einer Mißdeutung vorzubeugen. Gehen diese Änderungen auf den Heiligen selbst zurück oder sind sie von einer fremden Hand vorgenommen? Aufstieg und Nacht sind handschriftlich nur in einer Fassung überliefert. Der Unterschied zwischen diesen Handschriften und allen älteren Druckausgaben bis zu der ersten kritischen von P. Gerado (ebenso der Unterschied zwischen den alten Druckausgaben der Liebesflamme und der ersten handschriftlichen Fassung, auf die sie sich stützen) ist aber so erheblich,


  1. Vgl. dazu Baruzi, B. I.: Die Texte, sowie die Einleitungen in der neuesten kritischen Ausgabe von P. Silverio.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/155&oldid=- (Version vom 7.1.2019)