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Tod und Auferstehung

Hingabe an Gott bereit zu machen und ein brennendes Verlangen nach der Wiederkehr der Vereinigung und nach ihrem dauernden Besitz zu erwecken. Das zeigt sich klar in der 5. und 6. Wohnung der Seelenburg, wo die Vorbereitung und der Vollzug der geistlichen Verlobung geschildert wird. Die entsprechende Darstellung findet sich im Geistlichen Gesang in der Erklärung der 13. und 14. Strophe. An diesen beiden Stellen geben Johannes und Teresia übereinstimmend an, daß die Verlobung in einer Verzückung stattfindet. Gott reißt die Seele mit großer Gewalt an sich, sodaß die Natur fast darunter erliegt. Die hl. Mutter betont darum, daß großer Mut dazu gehöre, diese Verlobung abzuschließen. Und im Geistlichen Gesang entschlüpft den Lippen der erschreckten Braut die Bitte, der Geliebte möge Seine Augen abwenden, als Er ihr plötzlich den so lange ersehnten und erflehten Blick gewährt. Dazu steht in einem gewissen Widerspruch, wenn wir bei Johannes an anderer Stelle lesen, der Besitz durch die Gnade und der Besitz durch die Vereinigung verhielten sich zueinander wie Verlobung und Vermählung. Das eine bedeute das, was man durch den Willen und die Gnade erlangen könne – die völlige Übereinstimmung des menschlichen Willens mit dem göttlichen bei vollkommener Reinigung der Seele –, das andere die wechselseitige restlose Hingabe und Vereinigung[1]. Dieser Widerspruch läßt sich zum Teil rein terminologisch erklären: der Ausdruck Verlobung wird offenbar an den beiden Stellen nicht im selben Sinn gebraucht. Darüber hinaus aber liegt ein sachlicher Unterschied vor: das eigentlich Mystische scheint einmal auf die höchste Stufe eingeschränkt, während es in der andern Darstellung schon früher einsetzt[2]. Entscheidend ist aber für die Frage, die uns bei all diesen Erwägungen leitet, daß Johannes hier jedenfalls für die höchste Stufe einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Äußersten, was durch Gnade und Willen zu erreichen ist, und der mystischen Vermählung deutlich zum Ausdruck bringt. Damit ist offenbar jene Darstellung des Aufstiegs überwunden, die zwischen gnadenhafter und mystischer Vereinigung nur einen Gradunterschied sehen wollte. Überdies lassen sich aber in allen seinen Schriften Stellen aufweisen, die deutlich zeigen, daß der Einsatz des eigentlich Mystischen schon auf sehr viel tieferer Stufe zu suchen ist. Wir erinnern nur an jene Berührungen im Wesen der Seele, von denen im Aufstieg[3] die Rede ist. Es wird von ihnen gesagt,


  1. Lebendige Liebesflamme, Erklärung zu Str. 3 V. 3, Obras IV 54 ff. u. 160 ff.
  2. Wir werden später sehen, daß auch innerhalb des Geistlichen Gesanges die Darstellung nicht ganz einheitlich ist.
  3. B. II Kap. 30, E. Cr. I 264 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/154&oldid=- (Version vom 7.1.2019)