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Tod und Auferstehung

Sie wird das nicht tun, wenn sie selbst in ihr Innerstes eingegangen ist und es kennengelernt hat, wie es in der göttlichen Vereinigung geschieht. Denn dann ist sie so in Gott versenkt und geborgen, daß ihr keine Versuchung mehr nahen kann. Wie ist es aber möglich, daß sie sich preisgibt, wenn sie sich noch gar nicht so in Besitz genommen hat, wie es erst beim Eingehen ins Innerste geschehen kann? Es ist nur denkbar, daß sie es in einem blinden Zugreifen gleichsam noch von außen her tut. Sie schenkt sich weg, ohne zu wissen, was sie damit hingibt. Und auch der Teufel kann das Siegel dessen, was ihm verschlossen in die Hand gegeben wird, nicht erbrechen. Er kann nur zerstören, was ihm ewig verborgen bleibt.

Das Entscheidungsrecht über sich selbst steht der Seele zu. Es ist das große Geheimnis der persönlichen Freiheit, daß Gott selbst davor Halt macht. Er will die Herrschaft über die geschaffenen Geister nur als ein freies Geschenk ihrer Liebe. Er kennt die Gedanken des Herzens, Er durchschaut die tiefsten Gründe und Abgründe der Seele, in die ihr eigener Blick nicht dringt, wenn Gott sie nicht eigens dafür erleuchtet. Aber Er will nicht von ihr Besitz ergreifen, ohne daß sie selbst es will. Doch tut Er alles, um die freie Hingabe ihres Willens an den Seinen als Geschenk ihrer Liebe zu erlangen und sie dadurch zur beseligenden Vereinigung führen zu können. Das ist das Evangelium, das Johannes vom Kreuz zu verkünden hat, dem alle seine Schriften dienen.

Was zuletzt über den Wesensbau der Seele, besonders über das Verhältnis der Freiheit zu ihrem Innersten gesagt wurde, entstammt nicht den Ausführungen des hl. Vaters Johannes; es muß darum geprüft werden, ob es mit seinen Lehren im Einklang steht, ja sogar geeignet ist, diese Lehren noch klarer hervortreten zu lassen. (Nur wenn das der Fall ist, hat ja eine solche Einschiebung in diesem Zusammenhang ein Recht.) Auf den ersten Blick mag manches von dem Gesagten unvereinbar mit gewissen Darlegungen des Heiligen erscheinen.

Jeder Mensch ist frei und wird täglich und stündlich vor Entscheidungen gestellt. Das Innerste der Seele aber ist der Ort, wo Gott „ganz allein“ wohnt, solange die Seele nicht zur vollkommensten Liebesvereinigung gelangt ist[1], und die hl. Mutter Teresia nennt es die 7. Wohnung, die sich der Seele erst in der mystischen Vermählung erschließt[2]. Kann also nur die Seele, die auf der höchsten Stufe der Vollkommenheit angelangt ist, in vollkommener Freiheit


  1. Vgl. Lebendige Liebesflamme, Erklärung zu Str. 4 V. 3, Obras IV 100 ff.u. 210 ff.
  2. Seelenburg, 7. Wohnung 1. Hauptstück.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/144&oldid=- (Version vom 7.1.2019)