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Die Seele im Reich des Geistes und der Geister

bestehen zwischen den Menschenseelen und den reinen – d.h. leiblosen – Geistern? Ein möglicher Erkenntnisweg führt auch hier über den leiblichen Ausdruck und die anderen sinnenfälligen Äußerungen. Für die Menschen, sofern die reinen Geister die Macht haben, zum Zweck der Verständigung mit ihnen in sichtbarer Gestalt zu erscheinen oder sich in hörbaren Worten vernehmen zu lassen. Aber das ist ein sehr gefährlicher Weg, weil man dabei manigfachen Täuschungen und Irrtümern ausgesetzt ist: man kann als Geistererscheinungen ansehen, was bloße Sinnestäuschung oder Gebilde der Phantasie ist; der Teufel kann in der Lichtgestalt eines guten Engels erscheinen, um desto leichter zu verführen; und die Seele kann, aus Furcht vor solchen Täuschungen, echte Himmelserscheinungen als Sinnen- oder Teufelstrug abweisen.

Kommt andererseits auch für die reinen Geister das sinnenfällige Äußere als Zugang zum Inneren in Betracht? Die Erzählungen der Bücher Job und Tobias sind kaum anders zu deuten, als daß Teufel und Engel das äußere Verhalten der Menschen scharf beobachten und überwachen. Daß die Engel eine Erkenntnis der sinnenfälligen Welt und damit auch des menschlichen Äußeren haben, entspricht auch der Glaubenslehre, denn es ist für die Dienste vorausgesetzt, die sie dem Menschen leisten[1].

Wenn sie dazu keiner leiblichen Sinne bedürfen, so weist das daraufhin, daß es noch andere Möglichkeiten für die Wahrnehmung der körperlichen Natur geben muß, eine „Erkenntnis des Sinnenfälligen ohne Sinne“[2].

Diese Möglichkeiten zu untersuchen, ist hier nicht unsere Aufgabe. Jedenfalls ist für sie das Äußere nicht der einzige Zugangsweg zum inneren Leben; für sie sind auch die inneren, geistigen Worte und Äußerungen vernehmlich. Der Schutzengel „hört“ das Gebet, das lautlos aus dem Herzen zu ihm aufsteigt. Der böse Feind gewahrt gewisse seelische Regungen, die eine Handhabe für seine Einflüsterungen bilden können. Und die Geister haben ihrerseits die Möglichkeit, sich den Seelen auf geistigem Wege vernehmlich zu machen: durch lautlose Worte, die ohne Vermittlung der äußeren Sinne ins Innere hinein gesprochen und innerlich vernommen werden, oder durch Wirkungen, die man in sich selbst verspürt, aber als von außen bedingt, z.B. Stimmungswandlungen oder Willensantriebe, die aus dem eigenen Erlebniszusammenhang nicht verständlich sind. Was nicht in die äußeren Sinne fällt, ist darum noch nicht


  1. Vgl. Quaestiones disputatae de veritate, q 8 a 11 c., Edith Steins Werke, Bd. III.
  2. a. a. O. q 8 a 8 ad 7, Edith Steins Werke, Bd. III.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/139&oldid=- (Version vom 7.1.2019)