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Die Seele im Reich des Geistes und der Geister

Wir sprechen von einem Reich des Geistes und der Geister, sofern alles Geistige in einer mindestens möglichen Verbindung steht und Teil eines Ganzen ist. Wir nennen es Reich des Geistes, weil Geist mehr umfaßt als alle Geister, nämlich alles Geistige, und das ist in gewissem Sinn alles Seiende. Wir fügen aber hinzu: Reich der Geister, weil in diesem Reich die Geister, d.h. die personal-geistigen Wesen, eine hervorragende Rolle spielen.

Als alles Geistige und alle Geister unendlich überragend steht Gott an der Spitze dieses Reiches. Zu Ihm aufsteigen kann ein geschaffener Geist nur, indem er über sich selbst aufsteigt. Doch als alles Seiende ins Sein setzend und im Sein erhaltend, ist Gott der tragende Grund von allem. Was zu Ihm aufsteigt, das senkt sich ebendamit zugleich in seine sichere Ruhelage.


Verkehr der Seele mit Gott und mit den geschaffenen Geistern

Der Heilige nennt Gott den Ruhepunkt der Seele mit einem räumlichen Bild, das der naturwissenschaftlichen Auffassung seiner Zeit entnommen ist[1]. Danach werden die Körper mit aller Kraft nach dem Mittelpunkt der Erde hingezogen als dem Punkt der stärksten Anziehungskraft. Ein Stein im Innern der Erde wäre schon an einem gewissen Ruhepunkt, aber noch nicht am tiefsten Ruhepunkt, weil er noch die Fähigkeit, Kraft und Neigung hätte, weiter zu fallen, solange er nicht im Mittelpunkt wäre. So hat die Seele ihren letzten und tiefsten Ruhepunkt in Gott gefunden, „wenn sie mit all ihren Kräften Gott erkennt, liebt und genießt“. In diesem Leben ist das niemals vollkommen der Fall. Wenn sie also durch die Gnade Gottes in ihrem Ruhepunkt ist, so ist es noch nicht der tiefste Ruhepunkt, weil sie immer noch tiefer in Gott eindringen kann. Denn die Kraft, die sie zu Gott hinzieht, ist die Liebe, und die kann hier immer noch höhere Grade erreichen. Je höher ihr Grad ist, desto tiefer ist sie in der Seele verankert, desto innerlicher ist die Seele von Gott ergriffen. Auf den Stufen der Leiter steigt die Seele zu Gott empor, d.h. zur Vereinigung mit Ihm. Je höher sie zu Gott aufsteigt, um so tiefer steigt sie in sich selbst hinab: die Vereinigung vollzieht sich im Innersten der Seele, im tiefsten Seelengrund. Wenn das alles widerspruchsvoll scheint, so ist zu bedenken, daß es nur verschiedene räumliche Bilder sind, die in ihrer wechselseitigen Ergänzung etwas andeuten wollen, was völlig unräumlich ist und überhaupt durch


  1. Lebendige Liebesflamme, Str. 1 V. 3, Obras IV 13 u. 114 f.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/137&oldid=- (Version vom 7.1.2019)