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Passive Nacht des Geistes

die jede natürliche Neigung und Empfindung und jedes Begehren des Willens übersteigt. „Er muß solange in Trockenheit und Bedrängnis bleiben, als es seine dauernde Haltung gegenüber den natürlichen Neigungen zu Göttlichem und Menschlichem erfordert“. Auf diese Weise „muß er im Feuer der dunklen Beschauung .... bezüglich aller bösen Einflüsse ausgetrocknet, entleert und vollkommen befreit werden, damit seine Empfänglichkeit rein und lauter und sein Gaumen gereinigt und gesund werde, um die erhabenen fremdartigen Berührungen der göttlichen Liebe zu empfinden.... Die Seele muß auch .... für den Verkehr mit Gott mit einer gewissen verklärten Herrlichkeit ausgestattet werden, denn es sind darin unzählbare Schätze und Wonnen eingeschlossen, über alle Fülle hinaus, die die Seele natürlicherweise fassen kann; denn sie können in einer so schwachen und unreinen Natur nicht aufgenommen werden.... Deshalb muß die Seele erst arm und leer im Geist werden, .... um dann, entblößt vom alten Menschen, das neue beseligende Leben .... der Vereinigung mit Gott leben zu können.... Die Seele .... muß eine ganz erhabene Einsicht und wonnevolle göttliche Erkenntnis bezüglich aller göttlichen und menschlichen Dinge bekommen....; sie betrachtet die Dinge mit ganz andern Augen als früher; der Unterschied ist so groß wie zwischen dem Licht und der Gnade des Heiligen Geistes und dem sinnlichen Erkennen, zwischen Göttlichem und Menschlichem“. Dafür muß auch das Gedächtnis freigemacht werden, „das Empfindungsvermögen muß viel innerlicher und mehr abgestimmt werden für das Verlassen .... aller Dinge, wobei alles ungewohnt und anders erscheint als ehedem. So zieht diese Nacht den Geist heraus aus seiner gewöhnlichen und niedrigen Denkungsweise über die Dinge, um ihn mit göttlicher Einsicht zu erfüllen; dies erscheint nun der Seele so fremdartig und so verschieden von jeder menschlichen Auffassungsweise, daß sie ganz außer sich gerät. Manchmal meint sie, verzaubert oder in Verzückung zu sein, sie staunt über die Dinge, die sie sieht oder hört; sie kommen ihr ganz fremd und ungewöhnlich vor, obwohl es dieselben sind, mit denen sie gewöhnlich zu tun hat“.

„Alle diese Bedrängnisse und Reinigungen des Geistes muß die Seele durchkosten, um .... zum Leben des Geistes wiedergeboren zu werden. Und mit diesen Schmerzen gebiert sie den Geist des Heiles.... Außerdem bereitet sich die Seele mittels dieser Nacht der Beschauung auf jene Ruhe und jenen Frieden vor, der so tief und wonnevoll ist, daß er .... alle Begriffe übersteigt (Phil. 4,7). Darum muß jener frühere Frieden aus der Seele vollständig entfernt werden“, der „noch voll von Unvollkommenheiten war“ und darum

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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/115&oldid=- (Version vom 3.8.2020)