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Tod und Auferstehung

auch wieder einzelne, bestimmte Erleuchtungen, Offenbarungen und Tröstungen zuteilwerden – wie es in der meist sehr langen Zeit der Geistesnacht doch öfters geschieht –, so wird die sich jetzt bereit finden, nicht dabei zu verweilen. Sie wird es Gott überlassen, das in ihr zu wirken, was Er mit diesen übernatürlichen Mitteilungen beabsichtigt, wird aber selbst in der Dunkelheit des Glaubens bleiben, weil sie es nicht nur gelernt, sondern erfahren hat, daß all dies nicht Gott ist und ihr Gott nicht gibt, daß sie aber im Glauben alles hat, was ihr nötig ist: Christus selbst, der die ewige Weisheit ist, und in Ihm den unbegreiflichen Gott. Sie wird zu diesem Verzicht und zum Ausharren im Glauben um so eher bereit sein, je gründlicher sie durch die dunkle Nacht schon geläutert ist.

Daß die Seele auch nach langer Übung im geistlichen Leben noch voller Unvollkommenheiten ist und tiefgehender Reinigung bedarf, um für die Vereinigung tauglich zu werden, ist ja wiederholt betont worden. Es wurde auch gezeigt, daß diese Unvollkommenheiten mit übernatürlichen Mitteilungen aller Art sehr wohl zusammenbestehen können, ja daß in der noch nicht völlig geläuterten Seele die göttlichen Gnadengeschenke selbst Anlaß zur Unvollkommenheit werden können, besonders zu Stolz, Eitelkeit und geistiger Genußsucht. All die Schwächen heilt Gott durch die Entblößung, die sich in der dunklen Nacht vollzieht, „indem Er den Verstand der Finsternis ausliefert, den Willen der Trockenheit, das Gedächtnis der Leere und die Neigungen der Seele äußerster Betrübnis, Bitterkeit und Bedrängnis....“[1] Hier erfahren Geist und Sinne zusammen die letzte Reinigung, nachdem in der ersten Nacht die Sinne durch Umgestaltung und Zügelung der Gelüste und durch den Verkehr mit Gott soweit erstarkt sind, um die Beschwerden dieser tiefgehenden zweiten Reinigung ertragen zu können. Auch diese Reinigung ist das Werk der dunklen Beschauung.

Bisher haben wir die Beschauung hauptsächlich auf den Gewinn hin betrachtet, den sie der Seele bringt, indem sie die geistigen Kräfte auf Gott hinlenkt und zur Loslösung von allem Geschaffenen führt. Dieser Gewinn wurde schon in den Ausführungen des Aufstiegs über die aktive Nacht des Geistes klar. Er wird noch einmal kurz zusammengefaßt in der neuen Deutung, die der Heilige der Eingangsstrophe des Nacht-Gesangs zu Beginn der Abhandlung über die dunkle Nacht des Geistes gibt: „In Armut und Verlassenheit, da meiner Seele alle Inhalte mangelten, d. h. in der Finsternis meines Verstandes, in der Bedrängnis meines Willens, in der Betrübnis


  1. Dunkle Nacht, Nacht des Geistes, § 3 Kap. 3, E. Cr. II 56.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/108&oldid=- (Version vom 3.8.2020)