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Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

Das hilft dazu, ihnen den Geschmack an weltlichen Dingen zu nehmen. Dagegen kennt der reine Geist „nur die innere Sammlung und den geistigen Verkehr mit Gott“. Wohl soll man an einem geziemenden Ort beten; Kirchen und stille Plätze besitzen die rechte Weihe zum Gebet; doch muß man, um Gott „im Geist und in der Wahrheit anzubeten“ (Joan. IV, 23-24), keinen Ort wählen, der den Sinnen schmeichelt. Vielmehr „scheint .... ein einsamer, rauher Ort am geeignetsten zu sein, damit sich der Geist mit ganzer Kraft und geraden Weges zu Gott erheben kann und nicht gehindert und gehemmt wird durch sichtbare Dinge.... Darum wählte der Heiland zum Beten gewöhnlich einsame Orte und solche, die den Sinnen nicht viel Nahrung boten (um uns ein Beispiel zu geben), aber die Seele zu Gott erhoben: so die Berge, die sich von der Erde erheben, gewöhnlich kahl sind und den Sinnen keine Anregung bieten“[1]. Dreierlei Örtlichkeiten benützte Gott, um den Willen zur Andacht anzuregen: stimmungsvolle Landschaftsbilder, die durch ihre Bodengestaltung, ihren Baumwuchs, ihre stille Einsamkeit naturgemäß das Andachtsgefühl wecken. Man soll sich aber „.... an solchen Orten so benehmen, als wäre man nicht dort, wenn man innerlich bei Gott sein will“. Sodann gewährt Gott manchen Menschen an bestimmten Orten, mögen sie einsam sein oder nicht, besondere geistige Gunstbezeugungen. Dadurch erwacht in ihnen eine Anhänglichkeit an jenen Ort und die Sehnsucht, sich wieder dorthin zu begeben. Darin ist nichts Ungeordnetes zu sehen, wenn es ohne selbstsüchtiges Begehren geschieht. Denn Gott ist zwar an keinen Ort gebunden, aber es scheint, daß Er von diesem Menschen gerade dort gepriesen werden soll, wo Er sie begnadigt hat; dort wird die Seele eindringlicher an ihre Dankespflicht erinnert, und die Erinnerung gibt mächtige Anregung zur Andacht. Schließlich gibt es „Orte, die Gott in besonderer Weise auserwählt, damit Ihm dort durch Anrufung Seines Namens gedient werde. Ein solcher war der Berg Sinai, wo Er Moses das Gesetz gab (Ex. 22, 2) .... In gleicher Weise der Berg Horeb, zu dem Gott Elias gehen ließ, um sich ihm dort zu offenbaren (3 Reg. 19, 8) .... Den Grund, warum Gott diese Orte vor anderen zu Seinem Lobe auserwählte, weiß Er selber. Was uns betrifft, so genügt es zu wissen, daß alles zu unserem geistlichen Fortschritt geschieht und daß Gott uns dort und überall, wo wir Ihn mit vollkommenem Glauben anrufen, erhört. Und wenn wir zu Ihm flehen an Orten, die Seinem besonderen Dienst geweiht sind, so haben wir um so mehr Aussicht erhört zu werden,


  1. a. a. O. B. III Kap. 38, E. Cr. I 3 84 f.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/094&oldid=- (Version vom 3.8.2020)