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Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

gewährt, dann kommt es manchmal vor, daß plötzlich im Gehirn .... ein gewisser Umschwung vor sich geht. Dieser ist so stark, daß man meint, der Kopf vergehe einem ganz und gar und es schwinde einem aller Verstand und Sinn. Und dann wird .... das Gedächtnis .... von allen Kenntnissen entleert und geläutert ....“ Die Lahmlegung der Einbildungskraft und das Vergessen des Gedächtnisses, ist manchmal so groß, daß geraume Zeit vergeht, bis es wieder zu sich kommt und merkt, was während dieser Zeit vor sich gegangen ist“[1]. Eine solche Ausschaltung der Vermögen kommt aber nur in den Anfängen der Vereinigung vor, bei den Vollkommenen nicht mehr. Bei ihnen wird alles durch den Heiligen Geist geleitet; er mahnt sie zur rechten Zeit an das, was sie zu tun haben, und so bleiben sie bewahrt vor den Fehlern im äußeren Gehaben, die dem Übergangszustand eigen sind.

Die vollendete Läuterung also wird passiv von Gott erfahren. Was die Seele zu leisten hat, ist die Vorbereitung darauf: was immer die Sinne bieten, „davon bewahre sie nichts im Gedächtnis auf, sondern gebe es sogleich dem Vergessen anheim und bemühe sich, wenn nötig, an andere Dinge zu denken. Kein Bild der Erinnerung daran bleibe im Gedächtnis haften, so als hätten diese Dinge nie existiert. Man lasse das Gedächtnis völlig frei und unbehindert und suche es ja nicht zu irgendwelcher Betrachtung himmlischer oder irdischer Dinge zu veranlassen .... Man lasse .... diese Dinge im Vergessen versinken wie etwas, das doch nur hinderlich im Wege ist....“[2]

Eine geistliche Seele dagegen, die „Erinnerungen und natürliche Denktätigkeiten des Gedächtnisses als Weg zu Gott benützen will“, wird einen dreifachen Nachteil erfahren. Von den Dingen der Welt her wird sie unter mannigfaltigen Armseligkeiten zu leiden haben, „z.B. unter Täuschungen, Unvollkommenheiten, Gelüsten, Neigung

zum Kritisieren, Zeitverschwendung usw. ....“ Läßt man das Gedächtnis sich mit dem beschäftigen, was man durch die Sinne wahrgenommen hat, so fällt man „auf Schritt und Tritt in Unvollkommenheiten. Davon bleibt ja stets eine gewisse Neigung bald zu Betrübnis und Furcht, bald zu Haß und vermessenem Hoffen oder zu eitler Ehrbegierde in der Seele zurück ...., lauter Dinge, welche die vollkommene Reinheit der Seele und die lautere Vereinigung mit Gott verhindern.... Am besten entgeht man dem allen auf einmal, wenn man das Gedächtnis von allem freimacht“. Allerdings


  1. a. a. O. B. III Kap. 1, E. Cr. I 271 ff.
  2. Aufstieg, B. III Kap. 1, E. Cr. I 277.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/072&oldid=- (Version vom 3.8.2020)