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Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

Gnaden empfänglich machen, aber Gott verleiht sie, „wenn Er will und wie Er will und wozu Er es will“. Manchen, die sich in vielen Werken bewährt haben, werden diese Berührungen nicht zuteil, anderen, die weit weniger gute Werke aufzuweisen haben, im höchsten Grade und in größter Fülle. Manche von diesen Berührungen sind deutlich erkennbar, gehen aber schnell vorüber, andere sind weniger bestimmt und dauern dafür länger. Von allen diesen Empfindungen – denen des Willens wie denen im Wesen der Seele – fließt dem Verstand eine gewisse Erkenntnis und Einsicht zu. Diese besteht für gewöhnlich in einem ganz erhabenen, für den Verstand äußerst wonnevollen Spüren Gottes. Doch ist es unmöglich, dieses genau zu bezeichnen, ebensowenig wie das Gefühl, dem es entspringt. Die Erkenntnisse sind mehr oder weniger erhaben und deutlich, je nach der Verschiedenartigkeit der göttlichen Berührungen, denen die Empfindungen und in der Folge die Erkenntnisse entstammen. Die Erkenntnisse wie die Empfindungen werden der Seele passiv zuteil. „Soll jede Täuschung ausgeschaltet werden und sollen sie ungehindert sich fördernd betätigen können, dann darf der Verstand mit seiner Tätigkeit sich nicht einmischen .... Denn er könnte durch sein Eingreifen sehr leicht jene zarten Erkenntnisse gänzlich zunichte machen. ... Sie bestehen ja in einer wonnevollen übernatürlichen Einsicht, die dem natürlichen Verstande völlig unerreichbar ist. ... Man .... soll auch kein Verlangen danach aufkommen lassen, sonst könnte der Verstand weitergehen und selber sich Erkenntnisse bilden, ja es könnte dadurch dem Teufel Tür und Tor geöffnet werden, um mit allen möglichen Trugbildern einzudringen ....“ Die Seele soll also „sich nur ganz stille halten, demütig und gelassen sein“. Gott wird ihr jene Gnaden „mitteilen, .... wenn Er sie demütig und selbstlos findet“[1].


d) Entblößung des Gedächtnisses

Der Heilige hat sich in den wiedergegebenen Ausführungen hauptsächlich mit dem Verhältnis von Erkenntnis und Glauben zum Ziel der Vereinigung mit Gott beschäftigt. Ein weites Reich des Geistes hat sich vor uns aufgetan. Eine große Mannigfaltigkeit seelischer Vorgänge, von denen die gewöhnliche Erfahrung nichts ahnt, ist mit Meisterhand enthüllt, beschrieben und auf ihre Bedeutung im Zusammenhang des geistigen Geschehens untersucht


  1. a. a. O. B. II Kap. 30, E. Cr. I 264 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/070&oldid=- (Version vom 3.8.2020)