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Untauglichkeit alles Geschaffenen als Mittel zur Vereinigung usw.

in ihrer Wesenheit einer Seele mitteilen, so müßte diese sogleich den Leib verlassen und aus diesem sterblichen Leben scheiden“. Nur dann können solche Visionen ausnahmsweise jemandem zuteil werden, „wenn Gott dabei entweder die natürlichen Lebensbedingungen außer Kraft setzt oder sie aufrecht erhält, aber dabei den Geist vollständig von der Natur loslöst, wie z.B. Paulus bei seiner Schau des dritten Himmels dem natürlichen Leben entrückt wurde (2 Cor. 12,2). Diese Visionen kommen aber nur äußerst selten vor und nur bei Menschen die wie Moses, Elias und Paulus „Quellen des Geistes der Kirche und des göttlichen Gesetzes sind“. Nach dem gewöhnlichen Gang der Dinge können geistige Wesen hienieden „nicht hüllenlos und klar mit dem Verstande geschaut werden, wohl aber kann man sie im Innersten der Seele fühlen, in einem liebevollen Erkennen, verbunden mit wonnevollen Vereinigungen und Berührungen Gottes“. Dieses „liebevolle, dunkle Erkennen – das ist der Glaube – dient in diesem Leben zur göttlichen Vereinigung, sowie das Licht der Glorie im jenseitigen Leben das Mittel zur klaren Anschauung Gottes ist“[1].

Damit ist schon etwas vorausgenommen, was erst später behandelt werden soll. Vorläufig gilt es, über die geistigen Visionen körperlicher Dinge Klarheit zu schaffen. Sie werden vom Verstand durch übernatürliches Licht innerlich geschaut, wie die Augen durch das natürliche Licht die Dinge sehen. Aber das geistige Schauen ist viel schärfer und deutlicher als das leibliche. Es ist wie das Aufleuchten eines Blitzes, der bei dunkler Nacht für einen Augenblick die Dinge klar und bestimmt hervortreten läßt. Unter der Einwirkung des geistigen Lichtes prägen sich aber die Dinge der Seele so tief ein, daß sie sie jedesmal, wenn sie ihr mit der Gnade Gottes wieder bewußt werden, genau so erkennt, wie sie sie zuerst schaute. Sie bewirken in der Seele Ruhe und Klarheit, himmlische Freude, lautere Liebe, Demut und Erhebung des Geistes zu Gott. Durch diese Wirkungen unterscheiden sie sich von den Nachäffungen, die der Teufel hervorzubringen vermag. Trotzdem soll man sich ihnen gegenüber ablehnend verhalten. Wollte die Seele sie wie Schätze in sich aufspeichern, so würden jene Eindrücke, Bilder und Personen ihr Inneres einnehmen und ein Hindernis sein auf dem Wege zu Gott durch Verzicht auf alle geschaffenen Dinge. Wohl kann die Erinnerung an solche Visionen einen gewissen Grad von Gottesliebe erreichen. Aber in viel höherem Grade vermag dies der reine Glaube. Wenn er durch Entblößtsein, Dunkel und geistige Armut in der


  1. a. a. O. B. II Kap. 22, E. Cr. I 225 ff.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/063&oldid=- (Version vom 3.8.2020)