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Die Nacht des Glaubens als Weg zur Vereinigung

Umgestaltung zu erreichen, muß sie das Natürliche unter sich zurücklassen. Ja, sie muß sich selbst von allen übernatürlichen Gütern entäußern, wenn Gott ihr welche schenkt. Sie muß sich von allem losmachen, was in den Bereich ihrer Fassungskraft fällt. „Und sie muß wie ein Blinder im Dunklen bleiben, sich auf den dunklen Glauben stützen und ihn zur Leuchte und zum Führer wählen und sich auf nichts von dem stützen, was sie versteht oder genießt oder empfindet oder sich vorstellt. Denn das alles ist Finsternis, die sie in die Irre führt oder aufhält. Der Glaube dagegen ist über allem solchen Verstehen, Genießen, Empfinden und Vorstellen“[1]. All dem gegenüber muß die Seele völlig blind werden und bleiben, um das zu erlangen, was der Glaube lehrt. Denn wer noch nicht ganz blind ist, läßt sich nicht willig vom Blindenführer leiten, sondern vertraut noch auf das, was er selbst sieht. „So ist es auch mit der Seele. Wenn sie sich auf das verläßt, was sie selber von Gott weiß oder genießt oder empfindet ...., so kann sie auf diesem Wege gar leicht irregehen oder stehenbleiben, weil sie sich nicht ganz blind dem Glauben überläßt, der doch ihr wahrer Führer ist“. Um zur Vereinigung mit Gott zu gelangen, muß man „einfach an das Dasein Gottes glauben, das keine Sache des Verstandes noch des Willens oder des Vorstellungsvermögens oder sonst eines Sinnes ist; denn in diesem Leben kann man nicht erfassen, wie Gott ist. Mag man hier auch noch so erhabene Eindrücke von Gott haben oder Ihn erkennen und genießen, so bleibt das doch in unendlichem Abstand von dem, was Gott wirklich ist, und von dem reinen Besitz Gottes“. Will die Seele danach streben, „mit Ihm in diesem Leben vollkommen eins zu werden durch die Gnade, mit dem sie im anderen durch die Glorie so vereint sein soll, wie es nach St. Paulus kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und keines Menschen Herz erfaßt hat“ (1 Cor. 2,9; Is. 64,4), dann muß sie „soweit möglich, völlig unempfindlich werden für alles, was durch das Auge eindringen, was sie mit dem Ohr vernehmen, mit der Phantasie sich vorstellen und mit dem Herzen erfassen kann; mit dem Herzen wird hier die Seele bezeichnet“[2]. Stützt sie sich noch auf ihre eigenen Kräfte, so bereitet sie sich nur Schwierigkeiten und Hindernisse. Für ihr Ziel ist das Verlassen des eigenen Weges gleichbedeutend mit dem Betreten des wahren Weges. Ja, „das Streben zum Ziel und das Aufgeben seiner eigenen Art ist schon das Ankommen an jenem Ziel, das keine Art hat: d.i. Gott. Denn die Seele, die diesen Stand erreicht, kennt keine


  1. a. a. O. B II Kap. 3, E. Cr. I 107.
  2. a. a. O. I 108.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/051&oldid=- (Version vom 3.8.2020)