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Passive Nacht als Gekreuzigtwerden

zu verstehen, „daß nicht die geistigen Freuden und zahlreichen Genüsse .... die Voraussetzung und das Mittel zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes waren, sondern Trockenheit und Entblößung des sinnlichen Menschen....“[1] Unter „unwegsames Land“ aber versteht Johannes die Unfähigkeit, durch diskursives Denken sich einen Begriff von Gott zu machen oder durch nachforschendes Denken mit Hilfe der Einbildungskraft voranzukommen.

In der Trockenheit und Leere wird die Seele auch demütig. Die frühere Hoffart schwindet, wenn man in sich nichts mehr findet, was Anlaß geben könnte, auf andere herabzusehen; vielmehr erscheinen einem die andern nun viel vollkommener, es erwacht Liebe und Hochschätzung für sie im Herzen. Man hat auch jetzt zuviel mit dem eigenen Elend zu tun, um auf andere zu achten. Durch ihre Hilflosigkeit wird die Seele auch unterwürfig und gehorsam; sie sehnt sich nach Belehrung, um auf den rechten Weg zu gelangen. Gründliche Heilung erfährt die geistliche Habsucht: wenn man an keinerlei Übungen mehr Geschmack findet, wird man sehr mäßig und tut, was man tut, rein um Gottes willen, ohne eigene Befriedigung darin zu suchen. So geht es mit allen Unvollkommenheiten. Mit ihnen entschwindet dann auch alle Verwirrung und Unruhe. Statt dessen zieht ein tiefer Friede ein und eine ständige Erinnerung an Gott. Ihm zu mißfallen ist die einzige Sorge, die noch bleibt. Die dunkle Nacht wird zur Schule in allen Tugenden: sie übt in Ergebung und Geduld, wenn man im geistlichen Leben treu ist, ohne Trost und Erquickung zu finden. Die Seele gelangt zu einer lauteren Gottesliebe, indem sie nur noch um Gottes willen handelt. Das Ausharren in allen Widerwärtigkeiten gibt ihr Kraft und Starkmut. Die vollkommene Reinigung von allen sinnlichen Neigungen und Gelüsten führt zur Freiheit des Geistes, in der die zwölf Früchte des Geistes reifen. Sie gibt Geborgenheit gegenüber den drei Feinden: Teufel, Welt und Fleisch, die gegen den Geist nichts ausrichten können: ihnen ist die Seele „unbemerkt entwichen“. Und nun, da die Leidenschaften zur Ruhe gebracht sind, die Sinnlichkeit durch die Trockenheit eingeschläfert, „liegt das Haus in tiefer Ruhe“.

Die Seele ist entschlüpft und auf den Weg des Geistes gelangt, den Weg der Fortschreitenden oder den Erleuchtungsweg, auf dem Gott sie selbst, ohne ihre eigene Tätigkeit, unterrichten will. Sie befindet sich jetzt in einem Übergangszustand. Die Beschauung verlebt ihr reine geistige Freuden, an denen auch die gereinigten


  1. a. a. O. § 2 (Kap. 12), E. Cr. II 42.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/047&oldid=- (Version vom 3.8.2020)