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Kreuz und Nacht (Nacht der Sinne)

seelisch-geistige Bedeutung. Die kosmische Nacht wirkt auf uns ähnlich wie das, was in übertragenem Sinne Nacht genannt wird. Oder umgekehrt: was in uns ähnliche Wirkungen hervorbringt wie die kosmische Nacht, das wird in übertragenem Sinn Nacht genannt. Ehe wir dieses Was zu fassen suchen, müssen wir uns aber klar machen, daß schon die kosmische Nacht ein doppeltes Gesicht hat. Der dunklen und unheimlichen Nacht steht die mondbeglänzte Zaubernacht gegenüber, die von mildem, sanftem Licht durchflutete. Sie verschlingt die Dinge nicht, sondern läßt ihr nächtliches Antlitz aufleuchten. Alles Harte, Scharfe und Grelle ist hier gedämpft und gelindert, es offenbaren sich Wesenszüge, die bei hellem Tageslicht niemals zum Vorschein kommen. Es lassen sich auch Stimmen vernehmen, die der Tageslärm übertäubt. Und nicht nur die lichtvolle, auch die dunkle Nacht hat eigene Werte. Sie macht dem Hasten und Lärmen des Tages ein Ende, sie bringt Ruhe und Frieden. All das wirkt sich auch im Seelisch-Geistigen aus. Es gibt eine nächtliche, milde Klarheit des Geistes, in der er, von dem Frohndienst der Tagesgeschäfte frei, gelöst und gesammelt zugleich, in die tiefen Zusammenhänge seines eigenen Wesens und Lebens, der Welt und Überwelt hineingezogen wird. Und es gibt ein tiefes dankbares Ruhen im Frieden der Nacht. An all das muß man denken, wenn man die Nachtsymbolik des hl. Johannes vom Kreuz verstehen will. Aus den Zeugnissen über sein Leben und aus seinen Gedichten wissen wir, daß er überaus empfänglich war für die kosmische Nacht mit all ihren Tönungen. Er hat ganze Nächte am Fenster mit dem Blick auf die weite Landschaft oder im Freien zugebracht. Und er findet Worte für die Nacht, die von keinem andern Sänger der Nacht übertroffen werden (Geistlicher Gesang, Str. 15)[1]. Die Seele vergleicht den Geliebten:

La noche sosegada Der stillen Nacht, der schönen,
En par de los levantes de la aurora, Die schon das neue Morgenlicht durchdringet,
La música callada, Musik mit leisen Tönen
La soledad sonora, Und Einsamkeit, die klinget,
La cena, que recrea y enamora. Erquickend Nachtmahl, das die Lieb’ beschwinget.

Wenn der Denker Johannes in seinen Abhandlungen von der Nacht spricht, so steht dahinter die ganze Fülle dessen, was das


  1. E. Cr. III 160 f.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/034&oldid=- (Version vom 3.8.2020)