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Kreuzesbotschaft

bergen (Karith wird als caritas gedeutet); der Strom der göttlichen Gnade wird sie mit Wonne tränken, und die Lehre der Väter wird ihnen feste Speise für ihre Seele bieten: das Brot des Reueschmerzes und der Buße, das Fleisch der wahren Demut. Fand Johannes hier nicht den Schlüssel zu dem, was Gott in seiner eigenen Seele wirkte? Wohl gehen Gottes Heilspläne auf die ganze Menschheit und um ihretwillen auf Sein auserwähltes Volk. Aber dabei ist es Ihm um jede einzelne Seele zu tun. Jede einzelne wird von Ihm gleich einer Braut mit zärtlicher Liebe umworben, mit väterlicher Treue umsorgt. Wie dieses göttliche Liebeswerden zum Stachel wird, der die Seele nicht mehr zur Ruhe kommen läßt, auch dafür bot die Heilige Schrift den vollendeten Ausdruck: im Hohenlied. Dessen Widerhall ist der Geistliche Gesang. Wie darin das Kreuzmotiv wieder und wieder angeschlagen wird, muß später ausführlich gezeigt werden.

Wenn der Dichter in den farbenglühenden Bildern des alttestamentlichen Sängers reichliche Anregung fand, so konnte der Theologe noch aus einer andern ergiebigen Quelle schöpfen. Die Seele eins mit Christus, lebend von Seinem Leben – aber nur in der Hingabe an den Gekreuzigten, nur wenn sie den ganzen Kreuzweg mit Ihm gegangen ist: das ist nirgends klarer und eindringlicher ausgesprochen als in der Botschaft des hl. Paulus. Er hat schon eine ausgebildete Kreuzeswissenschaft, eine Theologie des Kreuzes aus innerster Erfahrung.

„Christus hat mich .... gesandt ...., das Evangelium zu verkünden; doch nicht mit Wortweisheit, damit das Kreuz Christi nicht seiner Kraft beraubt werde. Denn das Wort vom Kreuz ist zwar denen, die verloren gehen, Torheit; denen aber, die selig werden, das ist uns, ist es Gottes Kraft“. „.... Die Juden fordern Wunderzeichen, und die Griechen suchen Weisheit; wir aber verkünden Christus den Gekreuzigten, den Juden ein Anstoß, den Heiden aber eine Torheit, den Berufenen dagegen, Juden sowohl als Griechen, Christus Gottes Kraft und Gottes Weisheit; weil das Törichte, das von Gott kommt, die Weisheit übertrifft; und das Schwache, das von Gott kommt, mehr vermag als die Menschen“[1].

Das Wort vom Kreuz ist das Evangelium Pauli – die Botschaft, die er Juden und Heiden verkündet. Es ist schlichtes Zeugnis, ohne jeden Redeschmuck, ohne jeden Versuch, durch Vernunftgründe zu überzeugen. Es schöpft seine ganze Kraft aus dem, was es verkündet. Und das ist das Kreuz Christi, d.h. der Kreuzestod Christi


  1. 1 Cor. 1, 17-18 u. 22-24.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/014&oldid=- (Version vom 31.7.2018)