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Die Botschaft der Heiligen Schrift

wie es Johannes in seinem Hirtenlied besungen hat[1]. Propheten und Evangelien in wechselseitiger Ergänzung zeichnen das Bild des Messias, der im Gehorsam gegen den Vater kommt, um die Braut zurückzugewinnen, der ihr Joch auf sich nimmt, um sie davon zu befreien, ja den Tod nicht scheut, um für sie das Leben zu gewinnen. Das klingt wieder in den Romanzen[2]. Wenn darin das bräutliche Verhältnis von Israel auf die ganze Menschheit ausgedehnt ist, so entspricht das den Ankündigungen des Gottesreiches bei den Propheten wie in den Evangelien.

Noch etwas anderes mußte in den prophetischen Büchern für Johannes bedeutsam sein: das Verhältnis, in dem der Prophet selbst zu seinem Gott und Herrn steht; die Berufung und Aussonderung eines Menschen, auf den der Allmächtige Seine Hand legt. Ein Verhältnis, das diesen Menschen zum Freund und Vertrauten Gottes macht, zum Mitwisser und Verkünder der ewigen Ratschlüsse; das andererseits von ihm restlose Übergabe und unbegrenzte Bereitschaft fordert, ihn herausnimmt aus der Gemeinschaft der natürlich denkenden Menschen und ihn für sie zu einem Zeichen des Widerspruchs macht. Darauf wies nicht nur die Heilige Schrift unmittelbar hin, sondern auch ihre Deutung in der Überlieferung des Ordens. Im Karmel lebte – auch unter der gemilderten Regel – die Erinnerung an den Propheten Elias fort, den „Führer und Vater der Karmeliten“[3]. Die Institutio primorum monachorum[4] stellte ihn den jungen Ordensleuten als Muster des beschaulichen Lebens vor Augen. Der Prophet, den Gott auffordert, hinauszugehen in die Wüste, sich in dem Bache Karith zu verbergen, dem Jordan gegenüber, vom Wasser des Baches zu trinken und sich von der Speise zu nähren, die Gott ihm senden werde[5], das ist das Vorbild all derer, die sich in die Einsamkeit zurückziehen, der Sünde und allen sinnlichen Genüssen, ja allen irdischen Dingen entsagen (so ist „dem Jordan gegenüber“ zu verstehen) und sich in der Gottesliebe


  1. Editión Critica, Toledo 1914, Bd. 3 S. 173 f. Das Hirtenlied ist die Klage der verschmähten Heilandsliebe. Daß Johannes als Braut das Volk Israel denkt, soll nicht behauptet werden. Die Beziehung auf die einzelne Seele liegt ebenso nahe.
  2. a. a. O. Bd. III S. 174 ff.
  3. S. Propheta Dei Elias Ord. Carmelitarum Dux et Pater, Inschrift des Heiligen auf der Statue in der Vatikanbasilika.
  4. Nach unsern Chronisten war das Original griechisch geschrieben. Überliefert ist die lateinische Übersetzung des Patriarchen Aymerich von Antiochien (herausgegeben in Salamanca 1599). Eine französische Übersetzung brachte die Zeitschrift La Voix de Notre Dame du Mont Carmel, Bd. I/II, 1932/33.
  5. 3 Reg., 17,2-3.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/013&oldid=- (Version vom 31.7.2018)