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Kreuzesbotschaft

Leben retten will, wird es verlieren; aber wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es retten“[1]. Christus gibt Sein Leben hin, um den Menschen den Zugang zum ewigen Leben zu eröffnen. Doch um das ewige Leben zu gewinnen, müssen auch sie das irdische Leben preisgeben. Sie müssen mit Christus sterben, um mit Ihm aufzuerstehen: den lebenslänglichen Tod des Leidens und der täglichen Selbstverleugnung, gegebenenfalls auch den blutigen Tod des Glaubenszeugen für die Botschaft Christi.

Das Bild des Leidenden und Gekreuzigten, das in den Worten des Herrn vorausdeutend entworfen wird, malen die Passionsberichte der Evangelien breit und ausführlich. Ein reines und weiches Kinderherz und die Phantasie eines Künstlers – es ist kaum anders denkbar, als daß diese Bilder sich unauslöschlich eingeprägt haben. Wir müssen auch damit rechnen, daß der Knabe dem großen Gottesdienst der Karwoche beigewohnt, sogar als Meßdiener daran mitgewirkt hat. Am Palmsonntag und an den Kartagen läßt ja die kirchliche Liturgie alljährlich die letzten Lebenstage Jesu, Seinen Tod und Seine Grabesruhe in dramatischer Lebendigkeit vor den Gläubigen erstehen – in erschütternden Worten und Melodien, die unwiderstehlich zum Miterleben hinreißen. Wenn schon kaltherzige, sogar ungläubige und ins Weltleben verstrickte Menschen dabei nicht gleichgültig bleiben können, wie muß die Wirkung auf den jugendlichen Heiligen gewesen sein, von dem wir aus späterer Zeit wissen, daß er kaum über geistliche Dinge sprechen konnte, ohne in Ekstase zu geraten; den das Anhören eines Liedes in Entzückung versetzte!

Beim eigenen Schriftstudium kamen dann zu den Evangelienberichten die Weissagungen des Alten Testaments hinzu, vor allem wohl die Darstellung des leidenden Gottesknechtes bei Isaias, auf die der junge Ordensmann schon durch die Lesungen des Breviers in den Kartagen hingewiesen werden mußte. Hier waren nicht nur neue Schilderungen des Leidens von schonungsloser Realistik zu finden, sondern es bot sich der große welt- und heilsgeschichtliche Hintergrund des Dramas von Golgotha dar: Gott, der allmächtige Schöpfer und Weltenherr, der die Völker zusammenschmettert wie Tongeschirr, und zugleich der Vater, der mit treuester Sorgfalt Sein auserwähltes Volk umgibt; der zärtlich und eifersüchtig Liebende, der „Seine Braut Israel“ durch die Jahrhunderte hindurch umwirbt und immer wieder verschmäht und zurückgewiesen wird,


  1. Luc. 9,24; vgl. Matth. 10,39; Luc. 17,33; Joan. 12,25
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/012&oldid=- (Version vom 31.7.2018)