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Die Botschaft der Heiligen Schrift

sind die Schriftworte nicht wegzudenken. Sie sind ihm zum natürlichen Ausdruck seiner inneren Erfahrung geworden und kamen ihm beim Schreiben unwillkürlich in die Feder. Sein Sekretär und Vertrauter in den letzten Jahren, P. Johannes Evangelista, erzählt, daß Johannes vom Kreuz die Heilige Schrift kaum noch aufzuschlagen brauchte, weil er sie fast auswendig wußte[1]. So dürfen wir damit rechnen, daß die Kreuzesbotschaft des göttlichen Wortes sein ganzes Leben hindurch immer aufs neue in seinem Herzen gewirkt hat. Diese vielleicht wichtigste Quelle seiner Kreuzeswissenschaft erschöpfend zu behandeln ist ganz unmöglich. Denn wir müssen voraussetzen, daß die ganze Heilige Schrift, das Alte wie das Neue Testament sein tägliches Brot waren. Die Schriftzitate in seinen Werken sind so zahlreich, daß es nicht angeht, sie alle durchzusprechen. Andererseits wäre es töricht, sich auf sie zu beschränken und anzunehmen, daß andere Worte, die sich nirgends bei ihm angeführt finden, in ihm nicht auch lebendig wirksam gewesen wären. Es bleibt uns nichts übrig, als an verschiedenen Gruppen von Beispielen zu zeigen, wie wir uns das Eindringen der Kreuzesbotschaft etwa zu denken haben.

Der Heiland selbst hat bei verschiedenen Gelegenheiten und in verschiedenem Sinn vom Kreuz gesprochen: wenn Er Sein Leiden und Seinen Tod voraussagt[2], dann hat Er in wörtlichem Sinn das Holz der Schmach vor Augen, an dem Er Sein Leben enden wird. Wenn Er aber sagt: „....Wer sein Kreuz nicht auf sich nimmt und mir nicht nachfolgt, ist meiner nicht wert“[3] oder: „Wenn mir jemand folgen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz und folge mir“[4], dann ist das Kreuz das Sinnbild alles dessen, was schwer und drückend ist und der Natur so zuwider, daß es wie ein Gang zum Tode ist, wenn man es auf sich nimmt. Und diese Bürde soll der Jünger Jesu täglich auf sich nehmen[5]. Die Todesankündigung stellte das Bild des Gekreuzigten vor die Jünger hin und stellt es noch heute vor jeden hin, der das Evangelium liest oder hört. Darin liegt eine stillschweigende Aufforderung zu einer entsprechenden Antwort. Die Aufrufe zur Nachfolge auf dem Kreuzweg des Lebens geben die entsprechende Antwort an die Hand und geben zugleich Einblick in den Sinn des Kreuzestodes; denn an die einladenden Worte schließt unmittelbar die Mahnung an: „Wer sein


  1. P. Bruno a. a. O. S. 269.
  2. Matth. 20, 19; 26,2.
  3. Matth. 10, 38.
  4. Matth. 16,24; vgl. Marc. 8,34; Luc. 9,23; 14,27.
  5. Luc. 9,23.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/011&oldid=- (Version vom 31.7.2018)