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3.

Der Winter 1912/13 brachte noch die gemeinsame Rodelfahrt nach Schreiberhau. Im Sommersemester 1913 aber trennte sich das Kleeblatt, da Rose und ich Breslau verließen. Für die Klarheit der Darstellung wird es vielleicht gut sein, wenn ich meinen eigenen Werdegang bis zu diesem Zeitpunkt nachtrage, ehe ich Ernas weitere Schicksale erzähle. Ich habe berichtet, wie ich meinen Kinderglauben verlor und etwa um dieselbe Zeit anfing, mich als „selbständiger Mensch“ aller Leitung durch Mutter und Geschwister zu entziehen. Mit 14½ Jahren hatte ich die neunklassige höhere Mädchenschule durchlaufen. Das war zu Ostern 1906. Aber gerade zu diesem Zeitpunkt wurde die bisher freie „Selecta“, in die immer nur wenige Schülerinnen übergegangen waren, zur 10. Klasse erklärt, und an ihren Besuch wurden bestimmte Berechtigungen geknüpft. Als der Direktor den Brief bekam, in dem ich von der Schule abgemeldet wurde, war er ganz aufgeregt und legte mir alle Gründe vor, die es ratsam erscheinen ließen, noch ein Jahr zu bleiben. Aber ich ließ mich nicht umstimmen.

Ebenso entschieden hatte ich es zwei Jahre früher abgelehnt, ins Gymnasium überzugehen. Damals wurden die bisher vierjährigen Realgymnasialkurse, die sich an unsere 9. Klasse anschlossen, in eine sechsjährige realgymnasiale Studienanstalt umgewandelt, die sich nach dem 7. Schuljahr abspaltete. Unseren Jahrgang traf es so, daß wir in die vierjährigen Kurse nicht mehr aufgenommen werden konnten, in die sechsjährige Anstalt nur mit einem Jahr Zeitverlust. Das hatte mich wohl etwas abgeschreckt. Aber ich glaube, das eigentlich Ausschlaggebende war damals und jetzt ein gesunder Instinkt, der mir sagte, daß ich nun lange genug auf der Schulbank gesessen hätte und mal etwas anderes brauchte. Gerade im 7. Schuljahr hatten meine Leistungen etwas nachgelassen. Ich behauptete immer noch einen der ersten Plätze, aber es kam doch manchmal vor, daß ich versagte. Zum Teil lag es wohl daran, daß mich mancherlei Fragen, vor allem weltanschauliche, zu beschäftigen begannen, von denen in der Schule wenig die Rede war. Hauptsächlich ist es aber wohl durch die körperliche Entwicklung zu erklären, die sich vorbereitete.

Meine Mutter setzte meinem entschiedenen Willen keinen Widerstand entgegen. „Ich werde Dich nicht zwingen“, sagte sie, „ich habe Dich in die Schule eintreten lassen, als Du es wolltest; Du magst auch fortgehen, wenn Du es jetzt willst“. So verließ ich die Schule und fuhr einige Wochen später nach Hamburg.

Nicht lange, ehe ich die Schule verließ, riß der Tod zum zweitenmal

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/98&oldid=- (Version vom 1.8.2019)