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wurde dadurch nichts geändert; meine Mutter nannte aber seitdem ihren Sohn den „Chef“. Nach außen hin war nun er der verantwortliche und bestimmende Leiter, er schloß die Geschäfte ab und nahm unter den Kaufleuten der Stadt eine angesehene Stelle ein, wie es der Bedeutung der alten, soliden Firma entsprach. Er spielte die soziale Rolle, nach der ein Mann in reifen Jahren zur Befriedigung seines Selbstbewußtseins verlangt. Eingeweihte freilich wußten, daß er erntete, was die Mutter gesät und in mühevoller Lebensarbeit gehegt und gehütet hatte.


3.

Das Regiment im Hause war schon vor Jahrzehnten in die Hände meiner Schwester Rosa übergegangen. Wenn meine Mutter im Geschäft oft unter der Heftigkeit des „Chefs“ zu leiden hatte, so bedeutete die Heimkehr in ihre Häuslichkeit häufig einen Übergang vom Regen in die Traufe. Diese beiden Geschwister glichen einander sehr im Temperament; das wollte aber keines wahr haben, eines entsetzte sich über die Fehler des anderen, ohne zu ahnen, wie sehr es selbst darein verstrickt war. Rosas natürliche Heftigkeit war wohl noch zu besonderer Reizbarkeit gesteigert, weil sie sich unbefriedigt fühlte. Sie hatte stets jeden Versuch wohlmeinender Verwandten, ihr eine „gute Partie“ zu vermitteln, entrüstet zurückgewiesen. Nach Friedas unglücklicher Ehe durfte ihr schon gar niemand mehr von so etwas sprechen. Obgleich sie in der Haushaltsführung sehr selbständig war, konnte sie sich doch nie ganz als die Hausfrau fühlen, Mutter und Schwestern hatten ihre bestimmten Wünsche, auf die sie Rücksicht nehmen mußte, wenn sie sich auch häufig erst mit heftigen Worten dagegen sträubte. Sie selbst hatte das Mißtrauen, daß die andern ihre Arbeit geringschätzten, und sehnte sich darum nach etwas anderem, hatte aber bei aller Entschiedenheit, mit der sie in Worten ihre Ansicht zu vertreten pflegte, nicht genügend Initiative und Energie, um gegenüber Widerständen in der Familie ihre Berufspläne durchzusetzen. Meine Mutter, die sich nach Ruhe und Frieden in ihrer Häuslichkeit sehnte, litt schwer unter den täglichen Reibungen. Ein Vorschlag, den sie oder Frieda machten, eine Ansicht, die sie äußerten, traf meist sofort auf heftigen Widerspruch. Beide halfen in den frühen Morgenstunden, in der Mittagspause und abends nach Geschäftsschluß eifrig bei den häuslichen Arbeiten. Dazu bestellten sie das Gartenland, worein sie ein Stück des Lagerplatzes umgewandelt hatten, säten, pflanzten und ernteten; ja, wenn es ihre Zeit zuließ, richteten sie Gemüse

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/76&oldid=- (Version vom 31.7.2018)