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Leichenrede. Ich habe viele solche Reden gehört. Sie warfen einen Rückblick auf das Leben des Verstorbenen, hoben hervor, was er Gutes getan, und rührten damit den ganzen Schmerz der Angehörigen auf; etwas Tröstendes enthielten sie nicht. Es wurde zwar mit feierlich erhobener Stimme gebetet: „Und wenn der Leib zu Staub zerfällt, so kehrt der Geist zu Gott zurück, der ihn gegeben“. Aber dahinter stand kein Glaube an ein persönliches Fortleben und an ein Wiedersehen nach dem Tode. Als ich viele Jahre später zum erstenmal einem katholischen Leichenbegängnis beiwohnte, machte mir der Gegensatz einen tiefen Eindruck. Es war ein namhafter Gelehrter, der zu Grabe getragen wurde. Aber von seinen Verdiensten, ja von dem Namen, den er in der Welt getragen hatte, war nicht mehr die Rede. Nur unter ihrem Taufnamen wurde die arme Seele der göttlichen Barmherzigkeit empfohlen. Doch wie tröstend und beruhigend waren die Worte der Liturgie, die den Toten in die Ewigkeit geleiteten!

Ein schrecklicher Augenblick war es immer, wenn die Träger am Schluß der Leichenfeier den Sarg aufhoben und hinaustrugen. Die Trauernden folgten paarweise über den weiten Friedhof zum geöffneten Grabe. Dann kam wieder etwas Fürchterliches: das Herablassen des Sarges und das dumpfe Aufstoßen, wenn er den Grund erreicht hatte. Dagegen empfand ich es tröstlich, wenn ich an die Reihe kam, drei Schaufeln Erde hinabzuwerfen. Das war so wie ein letzter Gruß. Am Schluß wurde noch einmal in der Leichenhalle gebetet.

Ein Jahr später, genau um dieselbe Zeit, kam ein ganz ähnlicher Schlag. Der jüngste Bruder meines Vaters, der das großelterliche Geschäft in Gleiwitz übernommen hatte, machte wegen geschäftlicher Schwierigkeiten seinem Leben ein Ende. Wir hatten ihn wenig gekannt, denn er besuchte uns selten; aber das Ereignis als solches und die Parallele zu dem im Vorjahr wirkte erschreckend. Daß der Selbstmord etwas Furchtbares sei, ganz anders furchtbar als der Tod als solcher, das fühlte ich wohl. Und meine Mutter mit ihrer unverwüstlichen Lebensfrische pflegte in solchen Fällen zu sagen, nur in einer augenblicklichen Geistesverwirrung könne ein Mensch einen solchen Entschluß fassen und durchführen; bei gesundem Verstande sei es nicht möglich. Wenn ich später erwog, wie so etwas möglich sei, und zugleich bedachte, warum wohl gerade bei Juden der Selbstmord ziemlich häufig ist, fand ich noch eine andere Erklärung. Auch der wirtschaftliche Kampf gegen die Juden, der im vorigen Jahr so viele mit einem Schlage ruinierte, hat ja zu einer erschreckenden Anzahl von Selbstmorden geführt. Ich glaube, die Unfähigkeit, dem Zusammenbruch der äußeren Existenz ruhig ins

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/65&oldid=- (Version vom 31.7.2018)