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zu und stellte uns ganz in den Hintergrund. Aber schon in der ersten Probe holte uns Mme. Prochère in die vorderste Reihe. Sie war begeistert von der Fixigkeit, mit der ich ihre Ideen erfaßte und ihnen entsprach. Sie fragte mich öfters, ob ich nicht ganz zu ihr ins Ballet kommen wollte. Ich hielt diese Frage für gar keiner ernsthaften Antwort wert; trotzdem schmeichelte sie meiner Eitelkeit sehr. Erna war etwas steifer; aber das schadete nichts, weil sie der „Herr“ war. Sie bekam einen Frack aus braunem Samt und hellblaue Kniehosen, ich ein Kleidchen aus hellem, geblümtem Stoff, dazu hochfrisierte Haare mit Rosen darin. Man hatte uns angekündigt, daß wir auch geschminkt werden müßten. Dagegen protestierte ich lebhaft und zu meiner Freude erwies es sich an dem Festabend als völlig überflüssig, weil wir alle vor Erregung glühten und keines künstlichen Rot mehr bedurften. Man klatschte uns reichlich Beifall; ich wurde zusammen mit einer Cousine, der man neben mir den Preis der besten Tänzerin zusprach, zu dem greisen Geburtstagskind geführt, um einen besonderen Dank zu empfangen. Dann hob mich mein Onkel David mit beiden Händen empor und stellte mich auf eine Fensterbank, damit alle Menschen in dem großen Saal das winzige Persönchen recht sehen könnten. An diesem Abend guckte ich den Erwachsenen alle Tänze ab und wurde schließlich zu ihnen mit aufgefordert. In den nächsten Wochen brachte mir mein Bruder Arno, der ein guter Tänzer war, zu Hause bei, was mir etwa noch fehlte. Er war damals 22 Jahre alt und von stattlicher Länge, mußte sich also tief herunterbücken, um mit mir zu tanzen. Das störte aber beide Teile nicht. Als wir von jenem strahlenden Fest heimgehen mußten, schenkte mir eine schöne und vielbewunderte Cousine die Schneeglöckchen, die sie im Gürtel getragen hatte. Damit zog ich dann beglückt ab. Am nächsten Morgen fanden es meine großen Schwestern für gut, mir zu berichten, es hätten sich alle Leute über meine koketten Blicke beim Tanzen gewundert. Ich sagte: „Wie lächerlich!“; denn der „Kavalier“, mit dem ich kokettierte, war ja nur meine Schwester Erna. Daß die Siebenjährige den Vorwurf verstand und zurückwies, zeigt genügend, wie es in dem kleinen Köpfchen aussah.

In meinen Träumen sah ich immer eine glänzende Zukunft vor mir. Ich träumte von Glück und von Ruhm, denn ich war überzeugt, daß ich zu etwas Großem bestimmt sei und in die engen, bürgerlichen Verhältnisse, in denen ich geboren war, gar nicht hineingehörte. Von solchen Träumen sprach ich ebenso wenig wie von den Beängstigungen, die mich früher gequält hatten. Man merkte nur, daß ich verträumt war, und schreckte mich oft auf, wenn ich nicht merkte, was um mich herum vorging. Für diese wuchernde Phantasie

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/60&oldid=- (Version vom 31.7.2018)